»Ihr seid völlig erschöpft!« hatte Ermengarde gewettert. »Versucht gar nicht erst, den anderen in die Abtei zu folgen, die übrigens bis unters Dach voll ist. Es gibt hier, wie man mir versichert hat, eine gute Herberge, und ich habe die Absicht, mich dorthin zu begeben.«
Cathérine hatte aus Furcht vor den verächtlichen Bemerkungen Gerberts gezögert, aber der Leiter der Pilger hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
»Quartiert Euch ein, wo Ihr könnt! Die Abtei ist bereits voll, und ich weiß nicht, wohin ich meinen Trupp führen soll. Jeder soll sich einrichten, wie er kann, in einer Scheune oder bei einem Dorfbewohner. Handelt ganz nach Belieben. Vergeßt aber die feierliche Messe, die folgende Prozession und die verschiedenen Gottesdienste nicht.«
»Um wieviel Uhr werden wir denn weiterziehen?« fragte Cathérine ungeduldig.
»Erst übermorgen! Ihr scheint nicht zu ahnen, daß wir uns an einem der wichtigsten Orte unseres Glaubens befinden, meine Schwester. Er verdient es wohl, daß man einen Tag hier verweilt!«
Nach diesen Worten hatte er kurz gegrüßt, sich auf dem Absatz umgewandt und in Richtung des Abteiportals entfernt, ohne auf Catherines Einwände zu hören. Trotz der Strapazen des langen Weges hatte sie schneller vorwärts kommen und nur die kürzesten Rastpausen auf der Strecke einlegen wollen, die ihr geliebter Mann zurückgelegt hatte. Einen ganzen Tag hier zu verbringen schien ihr eine entsetzliche Zeitvergeudung, selbst wenn dieser Tag sie wieder zu Kräften kommen ließe.
»Was für verlorene Zeit!« murmelte sie und bot Ermengarde, deren Frauen ihr nicht ohne Mühe vom Pferd halfen, ihren Arm. Die Edle von Châteauvillain, durch die vielen im Sattel verbrachten Stunden ebenfalls ermüdet, war steif wie ein Brett. Aber sie hatte nichts von ihrem Temperament verloren.
»Wetten wir, daß ich weiß, was Ihr denkt, meine Kleine?« sagte sie fröhlich, Cathérine zum Tor einer großen Herberge ziehend, deren die Mauern abstützende Strebepfeiler ihr etwas Festungsähnliches gaben.
»Sagt's ruhig!«
»Ihr würdet viel darum geben, Euch morgen früh auf ein Pferd schwingen, alle unsere salbadernden Betbrüder sitzenlassen und mit Windeseile in die Stadt Galicia galoppieren zu können, wo Euch, wie Ihr glaubt, etwas erwartet.«
Cathérine versuchte nicht einmal zu leugnen. Sie lächelte nur müde.
»Es ist wahr, Ermengarde! Die Langsamkeit dieses Marschs bringt mich noch um. Bedenkt nur, wir sind hier so nahe bei Montsalvy, daß es mir eine Leichtigkeit wäre, hinzugehen und meinen Sohn zu umarmen! Aber ich bin zu einer Pilgerfahrt aufgebrochen und werde Gott nicht bemogeln! Wenn unterwegs nicht etwas eintritt, was mich überzeugt, daß ich Arnaud auf eine andere Weise suchen muß, werde ich mit meinen Gefährten die Reise bis zum Ziel fortsetzen. Und dann ist es natürlich gut, wenn man zusammenbleibt. Der Weg ist gefährlich, es wimmelt von Banditen. Es ist besser, wenn man stark ist. Mit Euren Frauen und Euren Bewaffneten wären wir nur sieben. Vorausgesetzt, wir halten bis zum Ende durch, da einer Eurer Soldaten schon geflohen ist.«
Das stimmte. Am frühen Morgen, als man die Kommandantur von Espalion verlassen hatte, bestand Ermengardes Eskorte nur noch aus drei Mann: Der vierte fehlte. Doch zur großen Überraschung Catherines hatte die alte Dame keinerlei Ärger gezeigt. Sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.
»Die Burgunder lieben das Reisen nicht! Und die Vorstellung, nach Spanien zu reisen, paßte Saulgeon gar nicht. Er muß es vorgezogen haben, zurückzureiten!«
Diese unerwartete Philosophie hatte Cathérine zu denken gegeben. Sie kannte Ermengarde und die unbeugsame Festigkeit, mit der sie ihre Leute führte, zu gut, um ihre jetzige Haltung nicht eigenartig zu finden. Oder sollte die furchtbare alte Dame sich in dieser Hinsicht geändert haben?
In der Herberge Sainte-Foy wurde die Dame de Châteauvillain mit allen ihrem Rang gebührenden Ehren empfangen. Ermengarde verstand es übrigens ausgezeichnet, sich bedienen zu lassen. Das Haus war voll besetzt, aber sie bekam trotzdem zwei Zimmer: eins für Cathérine und sich selbst, das andere für ihre Kammerzofe und Gillette de Vauchelles, die sie kurzerhand unter ihre Fittiche genommen hatte. Die Reisenden vertilgten ihr Abendessen schnell und schweigend. Alle waren müde, aber während Ermengarde, kaum ins Zimmer getreten, sich niederlegte und einschlief, hielt Cathérine sich trotz ihrer Müdigkeit am Fenster auf, das auf den kleinen Platz hinausging. Und außerdem war der Schlaf an diesem Abend weniger wichtig, da man noch einen Tag hierbleiben würde.
Auf dem kleinen steinernen Vorsprung in der Fensterecke sitzend, ließ Cathérine den Blick über das fremde und pittoreske Bild draußen wandern. Komödianten, wie sie oft in den Städten der großen Pilgerfahrt erschienen, hatten sich vor der Kirche eingefunden und gaben ihre Vorstellung vor einer Versammlung von Dorfbewohnern und Pilgern, die mangels Unterkunft sich auf dem Vorplatz niedergelegt hatten. Es waren Musikanten, Viola- und Lautenspieler, Harfenisten und Flötisten. Ein magerer Junge, in ein halb grünes, halb gelbes Kostüm gekleidet, jonglierte mit brennenden Fackeln. Am Fuße eines der beiden romanischen Türme der Vorderfront sitzend, hatte ein Erzähler derber Schnurren in buntem Flitter einen Kreis von Jungen und Mädchen um sich versammelt. Schließlich tanzte zum Klang der Musik ein grellrot gekleidetes, schmales Mädchen mit bloßen Füßen vor der hohen fahlen Steinfassade, von der herab Christus in seiner Majestät seine segnende Hand über die Menschheit hob. Die Flammen der Fackeln belebten wie in einem Theater die Figuren des gewaltigen, in das Giebelfeld eingehauenen Letzten Gerichts, das wie eine Seite des Evangeliums koloriert und vergoldet war. Die Erwählten schienen im Begriff, sich in die himmlischen Regionen zu erheben, und die Verdammten verzerrten in der Höllenpein unter dem Gelächter der Teufel schmerzlich die Gesichter.
Der Zauber dieser Kulisse wirkte auf Cathérine. Sie dachte, daß sie genau an diesem Ort auf den Weg stieß, den Arnaud und nach ihm Gauthier gegangen waren. Einer wie der andere, der Reiter mit der schwarzen Maske, den mageren Knappen an der Seite, und der große blonde Normanne, mußten ihren Fuß vor dieses edle Portal gesetzt und sich einen Augenblick unter die Menge gemischt haben, die zu dieser Stunde unter den Sternen träumte … Cathérine brauchte nur für einen Moment die Augen zu schließen, um sie vor sich heraufzubeschwören, den flüchtigen Leprakranken und den Sohn der Wälder des Nordens. Wo waren sie um diese Stunde? Was war ihnen zugestoßen, und welche Spur würde sie finden, sie, die sich mit den schwachen Kräften einer Frau auf die Suche nach ihnen gemacht hatte? Denn ebensowenig, wie sie glauben konnte, daß Arnaud auf immer für sie verloren war, gab sie sich mit dem Gedanken zufrieden, daß Gauthier tot sein sollte. Der Riese hatte etwas Unzerstörbares an sich. Der Tod konnte ihn nicht so niedergestreckt haben, in voller Jugend, auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Erst in vielen Jahren würde er ihn in seine Gewalt bekommen, wenn sein Diener, das Alter, seine gemeine Arbeit an dem granitenen Körper verrichtet hätte.
Plötzlich wurde Cathérine in ihren Gedanken unterbrochen. In der Menge, die den Gauklern zusah, erkannte sie Gerbert Bohat. Er näherte sich der roten Tänzerin. Das Mädchen hielt keuchend inne, um der Menge ein Tamburin entgegenzustrecken, als der Clermonteser es ansprach. Trotz der, wenn auch geringen, Entfernung konnte Cathérine mühelos den Sinn ihres Gesprächs verstehen. Die Hand Gerberts wies sogleich schroff auf das Kleid des Mädchens, das eng anlag und sehr dekolletiert war, und dann auf Christus im Giebelfeld, und sein wütendes Gesicht war eindeutig. Er mußte die Tänzerin mit Vorwürfen überschütten, daß sie es wagte, in dieser dreisten Kleidung vor einer Kirche eine Vorstellung zu geben. Und tatsächlich schien die große schwarzgekleidete Gestalt vor ihr der jungen Frau Angst zu machen. Sie hob den Arm, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Doch bald konnte Cathérine sich eines undeutlichen Unruhegefühls nicht erwehren. Der puritanische Wutausbruch Gerberts schien nicht nach dem Geschmack der Schar junger Bauern zu sein, die noch einen Augenblick zuvor dem Erzähler gelauscht hatten. Sie sahen nichts Unrechtes darin, daß man vor der Kirche tanzte, und begannen, die Tänzerin zu verteidigen. Einer von ihnen, ein kräftiger Bursche, dessen Körperbau Cathérine ein wenig an Gauthier erinnerte, packte Gerbert sogar am Rockkragen, während drei andere eine drohende Haltung gegen ihn einnahmen und die hitzigen Stimmen der Mädchen ihn beschimpften … Im nächsten Augenblick würde Gerbert Bohat mißhandelt werden.
Cathérine hätte nicht sagen können, was sie augenblicklich zum Handeln trieb. Sie hatte wahrhaftig keinerlei Sympathien für diesen Mann, den sie für hart, hochfahrend und erbarmungslos hielt. Vielleicht fügte sie sich der einfachen Tatsache, daß sie ihn brauchte, um nach Galicia zu gelangen. Jedenfalls verließ sie eiligst das Zimmer, lief in den Hof hinunter, wo Ermengardes Männer noch einen letzten Becher Wein vor dem Schlafengehen tranken, und sprach den Sergeanten an.
»Schnell!« befahl sie. »Befreit den Führer der Pilger. Sonst wird er von der Menge zusammengeschlagen!«
Die Männer griffen nach ihren Waffen und eilten hinaus. Sie folgte ihnen, ohne eigentlich zu wissen, warum, denn die Soldaten brauchten sie ja nicht. Vielleicht nur, um zu sehen, wie Gerbert sich verhalten würde. Tatsächlich war alles schnell erledigt. Die drei Burschen hatten breite Schultern, fürchterliche Fäuste, von langen Kriegsjahren gezeichnete Gesichter und blitzende Waffen. Die Menge öffnete sich vor ihnen wie das Meer vor dem Bug eines Schiffes, und Cathérine, in ihrem Kielwasser, befand sich im Nu neben Gerbert unter dem Portalvorbau. Die Menge knurrte zwar, wich aber wie ein bissiger, mit der Peitsche bedrohter Hund zurück und zerstreute sich, zu den Gauklern zurückkehrend, die ihre Kunststücke einen Augenblick unterbrochen hatten.
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