Sie warf Margot noch ein letztes Lächeln zu, die sie bewundernd ansah, und trat wieder in Ermengardes Zimmer.
Es war schon spät in der Nacht, als Cathérine zu sprechen aufhörte, aber im romanischen Hof des Hospizes läutete noch immer die Glocke der Verlorenen, Catherines Erzählung gleichsam einen seltsamen Kontrapunkt gebend, der die tragische Seite ihres Berichts unterstrich. Diesen Bericht hatte Ermengarde sich von Anfang bis Ende wortlos angehört, doch als Cathérine schwieg, stieß die alte Dame einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Wenn eine andere als Ihr mir diese Geschichte erzählte, würde ich nicht die Hälfte glauben«, sagte sie. »Aber es scheint, daß Ihr für ein außergewöhnliches Schicksal geschaffen und auf die Welt gekommen seid. Und ich halte Euch für fähig, die schlimmsten Abenteuer zu bestehen. Schließlich, Euch im Pilgermantel wiederzutreffen ist nicht nur eine einfache Anekdote! … Also, Ihr seid auf dem Weg nach Compostela? Wenn Ihr Euren Gatten dort aber nicht findet?«
»Dann werde ich weiterziehen. Bis ans Ende der Welt, wenn nötig, denn ich werde weder rasten noch ruhen, bis ich ihn gefunden habe.«
»Und wenn er keine Heilung erlangt hat und die Verwüstungen der Lepra deutlich zu sehen sind?«
»Dann werde ich trotzdem an seiner Seite bleiben. Wenn ich ihn erst einmal gefunden habe, wird nichts und niemand mich mehr von ihm trennen können! Ihr wißt ja, Ermengarde, daß er schon immer mein einziger Lebensinhalt war.«
»Ach, das weiß ich nur zu gut! Seitdem ich mit ansehe, wie Ihr Euch in die fürchterlichsten Sackgassen verrennt und in die blutigsten Mißgeschicke stürzt, frage ich mich, ob man dem Himmel wirklich danken soll, daß er Euch Arnaud über den Weg geführt hat.«
»Der Himmel konnte mir kein wundervolleres Geschenk machen!« rief Cathérine mit solcher Begeisterung, daß Ermengarde die Brauen hob und in lässigem Ton bemerkte:
»Wenn man bedenkt, daß ihr ein Reich regieren könntet! Wißt Ihr, daß Herzog Philippe Euch nie vergessen hat?«
Cathérine wechselte die Farbe und zog sich brüsk von ihrer Freundin zurück. Diese Erinnerung an vergangene Tage war ihr peinlich.
»Ermengarde«, sagte sie ruhig, »wenn ihr wollt, daß wir Freundinnen bleiben, dann sprecht mir nie mehr von Herzog Philippe! Diesen ganzen Abschnitt meines Lebens möchte ich vergessen.«
»Da müßt Ihr aber ein verflucht willfähriges Gedächtnis haben! Das dürfte nicht leicht sein!«
»Vielleicht! Aber …« Catherines Ton wurde plötzlich milder. Sie rückte wieder dicht neben Ermengarde, die immer noch auf ihrem Bett kauerte, und sagte freundlich:
»Erzählt mir lieber von den Meinen, von meiner Mutter und meinem Onkel Mathieu, von denen ich so lange keine Nachricht mehr habe! Wenn Ihr welche habt.«
»Natürlich habe ich«, brummte Ermengarde. »Beiden geht es gut, aber sie ertragen es weniger gut als Ihr, ohne Nachricht gelassen zu werden. Das letztemal, als ich nach Marsannay ging, traf ich sie recht gealtert an. Aber ihre Gesundheit ist gut.«
»Mein … Verschwinden hat ihnen hoffentlich keinen Ärger bereitet?« fragte Cathérine mit leiser Verlegenheit.
»Es wird langsam Zeit, daß Ihr Euch Gedanken darüber macht!« bemerkte die alte Dame mit einem Lächeln im Mundwinkel. »Nein, beruhigt Euch«, fügte sie eiligst hinzu, als sie sah, daß Catherines Gesicht sich verdüsterte, »es ist ihnen nichts Unangenehmes zugestoßen. Der Herzog ist trotz allem noch nicht so tief gesunken, um sie seine Liebesenttäuschungen büßen zu lassen. Ich würde sogar glauben … er hofft im Gegenteil, daß der Wunsch, sie wiederzusehen, Euch eines Tages in seine Dienste zurückführen wird. Folglich wird er nicht die Gemeinheit begehen, sie des Landes zu verweisen, nur um sie nicht mehr sehen zu müssen. Meiner Meinung nach wünscht er, Euch zu zeigen, was für eine großmütige Seele er besitzt! Auch das Vermögen Eures Onkels floriert ganz hübsch. Von dem der Châteauvillain würde ich nicht dasselbe sagen!«
»Was meint Ihr damit?«
»Daß auch ich eine Art Verbannte bin. Seht her, mein Herz, ich habe einen Sohn, der mir ähnelt. Er besitzt genügend englisches Blut, um sich in seiner französischen Haut nicht wohl zu fühlen. Also hat er die junge Isabelle de La Trémoille, die Schwester Eures Freundes, des Exgroßkämmerers, geheiratet.«
»Ich hoffe nur, daß sie ihm nicht gleicht!« rief Cathérine entsetzt.
»Durchaus nicht: Sie ist charmant! Mein Sohn hat dem Herzog von Bedford den Hosenbandorden zurückgeschickt und ist in offene Revolte gegen unseren teuren Herzog getreten. Ergebnis: Die herzoglichen Truppen belagern unser Schloß Grancey, und was mich betrifft, so habe ich mir gedacht, es wäre langsam an der Zeit, ein wenig auf Reisen zu gehen. Ich hätte eine abscheuliche Geisel abgegeben. Daher kommt es, daß Ihr mich auf den Landstraßen findet, auf dem Weg nach Compostela und zu meinem Seelenheil, über das ich mir ernstlich Gedanken mache. Aber ich segne diesen verfluchten Unfall, der mir ein Bein kaputtgemacht und mich hier aufgehalten hat. Ohne diesen Unfall wäre ich schon weit und hätte Euch nicht getroffen …«
»Leider«, seufzte Cathérine, »werden wir uns von neuem aus den Augen verlieren. Sicherlich wird Euer Bein Euch noch mehrere Tage hier festhalten, und ich muß morgen mit meinen Gefährten weiterziehen!«
Die natürliche, gesunde Gesichtsfarbe der Dame de Châteauvillain wurde dunkelrot.
»Glaubt das nur nicht, meine Schöne! Ich habe Euch wiedergefunden und werde Euch nicht verlassen. Ich ziehe mit Euch. Meine Leute werden mich auf einer Bahre tragen, wenn ich mich nicht auf dem Pferd halten kann, aber ich werde keine Minute länger als Ihr hierbleiben. Und wie wär's, wenn Ihr jetzt ein wenig schlafen würdet? Es ist spät, und Ihr müßt müde sein. Legt Euch neben mich, es ist Platz für zwei!«
Ohne sich weiter bitten zu lassen, legte Cathérine sich neben ihrer Freundin zur Ruhe. Der Gedanke, daß sie mit und neben Ermengarde aufbrechen würde, der Gedanke an deren gesunde, moralische Haltung erfüllte sie gleichzeitig mit Freude und Vertrauen in die Zukunft.
Die alte Dame war unzerstörbar. Schon einmal, nach dem Tode des kleinen Philippe, hatte Cathérine geglaubt, sie sei am Ende. Sie war gramgebeugt, war plötzlich gealtert. Ihre Seele hatte sich auf den Tod vorbereitet … und jetzt traf sie sie auf den großen Landstraßen wieder, vitaler und bissiger denn je! Gewiß würde der Weg mit Ermengarde leichter und viel angenehmer sein.
Das Feuer im Kamin brannte herunter. Die Gräfin hatte die Kerze ausgeblasen, und Schatten hatten das kleine Zimmer überflutet. Cathérine konnte nicht umhin zu lächeln, als sie daran dachte, was für ein Gesicht Gerbert Bohat machen würde, wenn er am Morgen die imposante Dame auf ihrer Trage sähe und erführe, daß er sie in Zukunft seinen Pilgern hinzuzählen mußte. Seine Reaktion wäre es zweifellos wert, gesehen zu werden.
»Woran denkt Ihr?« fragte Ermengardes Stimme plötzlich. »Ihr schlaft noch nicht, ich fühl's!«
»An Euch, Ermengarde, und an mich! Ich habe Glück gehabt, Euch am Anfang dieser langen Reise getroffen zu haben!«
»Glück? Ich habe Glück gehabt, meine Liebe! Seit Monaten, ach, was sage ich, seit Jahren langweile ich mich zu Tode! Dank Euch wird mein Leben, hoffe ich, etwas pittoresker und unterhaltsamer werden. Und verdammt noch mal, das habe ich auch nötig! Ich bin schon völlig verblödet, Gott verzeihe mir! Und ich fühle mich jetzt gesünder.«
Und wie zum Beweis dieser wunderbaren plötzlichen Genesung schlief Ermengarde unverzüglich ein und fing an, so herzhaft zu schnarchen, daß sie das melancholische Gebimmel der Glocke übertönte.
In der alten romanischen Kapelle des Hospizes sprachen die gedämpften Stimmen der Pilger dem Pater Abt die Worte des rituellen Gebetes der Reisigen nach.
»Gott, der du Abraham aus seinem Lande gehen ließest und ihn auf seinen Wanderungen heil und gesund erhalten hast, gewähre deinen Kindern denselben Schutz. Stehe uns bei in der Gefahr, und lindere unseren beschwerlichen Marsch. Sei uns Schatten gegen die Sonne, Mantel gegen Regen und Wind. Trage uns in unserer Müdigkeit, und verteidige uns in jeder Gefahr. Sei der Stab, der uns vor dem Fallen bewahrt, und der Hafen, der die Schiffbrüchigen aufnimmt …«
Aber Catherines Stimme mischte sich nicht unter die anderen. Im Geist ließ sie die heftigen Worte noch einmal an sich vorüberziehen, die zwischen ihr und Gerbert Bohat kurz vor Eintritt in die Kapelle zur Messe und Predigt, die dem Aufbruch vorangingen, gewechselt worden waren. Als der Clermonteser die junge Frau unter dem Portalvorbau auftauchen sah, die noch sehr bleiche Gillette de Vauchelles am Arm, war er blaß vor Zorn geworden. Er war derart aufbrausend auf die beiden Frauen zugeeilt, daß er Ermengarde, die, auf zwei Krücken gestützt, direkt hinter ihnen ging, nicht sofort bemerkte.
»Diese Frau ist nicht fähig, die Reise fortzusetzen«, hatte er barsch gesagt. »Natürlich kann sie die Messe hören, aber wir werden sie in der Obhut der Barmherzigen Schwestern zurücklassen.«
Cathérine hatte sich vorgenommen, freundlich und geduldig zu bleib en, um Gerbert zu besänftigen, aber es wurde ihr schnell klar, daß ihre Geduld nicht von langer Dauer sein würde.
»Wer hat das bestimmt?« fragte sie in ungewöhnlich freundlichem Ton.
»Ich!«
»Und mit welcher Berechtigung, bitte?«
»Ich bin der Führer dieses Pilgerzuges. Ich habe zu entscheiden!«
»Ich glaube, da irrt Ihr Euch. Beim Aufbruch von Le Puy seid Ihr vom Bischof als unser Reiseleiter ausgewählt worden, um an der Spitze unseres Trupps zu gehen, weil Ihr ihm als besonnener Mann erschienen seid und diesen Weg schon einmal zurückgelegt habt. Aber Ihr seid nicht unser ›Führer‹ in dem von Euch verstandenen Sinn.«
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