»Eßt schnell etwas, und dann brechen wir auf. Die Stadttore werden geöffnet …« Tatsächlich hörte man das Fallgatter der ganz in der Nähe gelegenen Porta Santa Maria knarren, während die Stimmengeräusche, die Schreie und üblichen Rufe den Platz zu erfüllen begannen. Hans wandte sich zur Tür.
»Wo ist Josse?« fragte er. »Noch auf dem Platz?«
»Ich glaube … ja!«
»Ich hole ihn.«
Mechanisch mit ihren schönen Zähnen noch einen Brotkanten und eine Zwiebel kauend, folgte ihm Cathérine. Josse war nicht weit. Seine hagere Silhouette mit den in die Hüften gestemmten Armen hob sich einige Klafter vom Haus entfernt ab. Er schien von einem Spektakel fasziniert zu sein, das auch Hans und Cathérine sofort fesselte. Eine Reiterschar kam auf den Platz geprescht. Die junge Frau erkannte die Stadtknechte und mitten unter ihnen den andalusischen Renner und den schwarzen Federbusch Don Martin Gomez Calvos. Im selben Augenblick kam im Laufschritt ein Trupp Zimmerleute mit Balken und Bohlen, Leitern und Hämmern an. Ein riesiger Mann, in dunkles Purpur gekleidet, schien sie anzuführen.
»Der Scharfrichter!« stieß Hans erbleichend hervor. »Donnerwetter! Soll das etwa heißen, daß …«
Er beendete seinen Satz nicht. Was sich vor den entsetzten Augen Catherines abspielte, war nur zu klar. Mit teuflischer Schnelligkeit richteten die Zimmerleute ein niedriges Gerüst auf, angefeuert von den energischen Gesten des Scharfrichters und dem Peitschenknallen dreier plötzlich erschienener Aufseher.
»Es sind maurische Sklaven!« flüsterte Hans. »Wir müssen sofort fliehen. Seht, was Don Martin tut.«
Cathérine wandte den Kopf zu dem Alkalden. In Wahrheit bedurfte es keiner langen Prüfung, um zu verstehen, was er tat. Aufrecht im Steigbügel stehend, mit einem knochigen Finger zum Himmel, dann wieder auf den Boden weisend, gab er so klar, daß man seine Worte nicht zu übersetzen brauchte, den Befehl, den Käfig herunterzuholen.
In diesem Augenblick drehte Josse sich auf dem Absatz um und rannte zum Haus zurück. Er war leichenblaß.
»Alarm!« rief er. »Don Martin fürchtet, die schlechte Behandlung habe den Gefangenen zu sehr geschwächt. Er hat Befehl gegeben, die Hinrichtung vorzubereiten. Und er scheint es eilig zu haben!«
Tatsächlich tauchte ein neuer Trupp maurischer Sklaven mit gelben Turbanen auf, mit Holzkloben und Reisigbündeln beladen, die für den Scheiterhaufen des zuvor Abgehäuteten bestimmt waren.
Ohne zu antworten, packte Hans Cathérine und Josse am Arm und kehrte mit ihnen eiligst ins Haus zurück. Sie stürzten zum Wagen, an den Hatto gerade die Pferde geschirrt hatte. Hurtig kletterten die drei Gefährten auf das Fuhrwerk; Cathérine neben Hans, der die Zügel ergriff, und Josse hinten mit herunterhängenden Beinen, die Kappe über den Augen, in der Haltung eines gewissenhaften Arbeiters, der sich zu seiner Baustelle begibt, ohne sich um andere Dinge zu bekümmern. Die Peitsche knallte in den Händen Hans', und das Gespann durchfuhr die Bohlenschranke, die Hatto offenhielt. Man fuhr auf die Porta Santa Maria zu. Aber schon wurde es schwierig durchzukommen. Die Vorbereitungen für die Hinrichtung hatten die Bürger aus ihren Häusern gelockt. Sie drängten sich in dichten Scharen zusammen, stießen und schubsten sich, um in die vorderen Reihen zu kommen. Die Fenster öffneten sich fröhlich klappernd und rahmten Frauen mit blitzenden Augen ein. Man stieg auf die Dächer, die der Regen des vergangenen Abends und die Morgenkälte glatt und schlüpfrig gemacht hatten. Das Volk von Burgos bereitete sich fieberhaft auf ein besonderes Schauspiel vor!
Catherines Blick glitt angstvoll über das Gerüst, wo die Henker in diesem Augenblick einen mit Ketten versehenen Pfahl in Form eines Kreuzes auf dem schon fast aufgeschichteten Scheiterhaufen errichteten, und dann zum Turm hinauf, zum Käfig, der langsam heruntergelassen wurde. Er hatte bereits die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Und das Fuhrwerk hatte immer größere Schwierigkeiten, vorwärts zu kommen.
»Paso!«,[2] brüllte Hans, aufrecht stehend und mit der Peitsche knallend. »Paso! …«
Aber die Menge, die immer dichter wurde, war von den Vorbereitungen der Hinrichtung zu sehr gefesselt, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Seine Rufe trugen ihm höchstens einen verächtlichen Blick ein. Dieses Volk zog es vor, von den Hufen der Pferde niedergetreten zu werden, bevor es auch nur einen Daumenbreit von der Stelle wich. Der Deutsche wurde zornig.
»Cuidado!«,[3] befahl er, während die Peitsche einige rebellische Schultern streifte. Gleichzeitig zerrte er mit aller Kraft an den Zügeln und ließ die Pferde sich aufbäumen, deren ausschlagende Hufe mehrere Köpfe bedrohten. Diesmal wich die Menge, Schreckensschreie ausstoßend, zur Seite. Hans trieb seine Pferde dem Tor zu.
Und im selben Augenblick berührte der Käfig den Boden, und Don Martin brauchte nicht zweimal hinzusehen, um festzustellen, daß der Gefangene ihm entwischt war. Cathérine, die ihn beobachtete, sah ihn erbleichen. Er sprang vom Pferd und bellte Befehle. Die getäuschte, schon wütende Menge begann zu grollen wie das Meer beim Herannahen eines Sturms. Der Karren fuhr jetzt unter das Gewölbe des Stadttors. Knarrend senkte sich das Fallgatter vor dem Geschirr der Pferde. Don Martin hatte Befehl gegeben, die Tore zu schließen und die Stadt zu durchsuchen!
Einer Ohnmacht nahe, schloß Cathérine die Augen und sank auf ihren Sitz zurück. Hans' Stimme drang flüsternd wie aus einem tiefen Traum zu ihr:
»Mut! Kaltes Blut! Dies ist nicht der Augenblick, nervös zu werden! Kopf hoch jetzt! Es ist unsere einzige Chance.«
Und er überfiel die Wachen mit einem Wortschwall in bestem Kastilianisch, setzte ihnen wütend und langatmig auseinander, daß er seine Arbeit zu tun habe und die lokalen Geschichten ihn nichts angingen.
Wütend mit den Händen herumfuchtelnd, so daß sogar Don Martin hätte eifersüchtig werden können, deutete Hans abwechselnd auf das geschlossene starke Gitter und sein Fuhrwerk und versuchte sichtlich, die Wachen zu überreden, ihn durchzulassen. Die aber, schwer auf ihre Piken gestützt und auf ihren Befehlen beharrend, schüttelten nur die Köpfe und weigerten sich, weiter zuzuhören. Entmutigt ließ Hans sich auf seine Kutschbank zurückfallen.
»Was sollen wir jetzt tun?« fragte Cathérine, den Tränen nahe.
»Was können wir schon tun? Wir müssen hierbleiben und abwarten … mit allen damit verbundenen Risiken!«
Bedrückt senkte Cathérine den Kopf, faltete die Hände vor der Brust und sprach still ein Gebet, ohne sich darum zu kümmern, was sich hinter ihr abspielte. Indessen brauste es auf dem Platz wie ein aufgewühltes Meer. Von den Stadtknechten übel zugerichtet, die sie mit einem Hagel von Lanzenhieben traktierten, um sich einen Weg zu den Häusern zu bahnen, brüllten die Menschen wie Schweine auf der Schlachtbank. Schmerz und Wut mischten sich. Hin und wieder brachen Streitigkeiten aus, ja, es kam sogar zu Tätlichkeiten. Und schon stürmten die Männer Don Martins in die Herbergen und unterzogen die Gastwirte und Reisenden scharfen Verhören. Jedermann glaubte in jedem unbekannten oder auch nur etwas fremdländisch aussehenden Gesicht einen der furchtbaren Banditen des Waldes von Oca zu erkennen, die zweifellos gekommen waren, um ihren Kameraden zurückzuholen. Furcht schlich sich in die Herzen und säte Panik.
Plötzlich ließ sich von der anderen Seite des geschlossenen Tores schwach ein frommer Gesang hören, ein so bekannter Gesang, daß Cathérine jäh den Kopf hob.
»E ul treia! E sus eia! Deus aia nos!«
Der jahrhundertealte Gesang der Pilger von Compostela. Der Gesang, den sie immer anstimmten, wenn die Müdigkeit sie übermannte, der Gesang, den Cathérine noch vor wenigen Wochen beim Verlassen von Puy und auf den einsamen Wegen des Aubrac selbst angestimmt hatte. Eine vage Hoffnung stieg in ihr auf. Es schien ihr, daß die alte Kantilene die Antwort Gottes auf ihr sehnliches Gebet sei. Sie sprang vom Wagen, eilte zum Fallgatter, klammerte sich mit beiden Händen daran und drückte das Gesicht zwischen die Stangen. Vor ihr, auf der römischen Brücke, näherte sich ein Trupp ermatteter und zerlumpter Pilger, die sich bemühten, ihre müden Rücken aufzurichten und ihre hängenden Köpfe zu heben. An der Spitze, die Augen zum Himmel gehoben, den fanatischen Blick auf die Wolken gerichtet und hoch den Stab hebend, mit dem er den Takt zu dem Gesang schlug, marschierte Gerbert Bohat …
»Sieh mal einer an!« flüsterte Josse, der neben Cathérine geglitten war. »Wie man sich wiedertrifft!«
Aber Gerbert hatte seine ehemaligen Weggenossen nicht gesehen. Er war einige Schritte vor dem heruntergelassenen Fallgatter stehengeblieben und hob den Kopf zum Wall hinauf, wo Soldaten Wache standen.
»Warum ist dieses Tor geschlossen?« fragte er. »Öffnet den fahrenden Rittern Gottes!«
Und gleich wiederholte er seine Worte auf spanisch. Ein Bewaffneter erwiderte etwas, was offenbar bedeutete, er solle zum Teufel gehen, denn der Ton war barsch. Aber die christliche Sanftmut hielt den Clermonteser nicht zurück, scharf zu antworten. Er hob die Stimme und herrschte seinen Gegner an.
»Was sagt er?« fragte Cathérine.
»Keine christliche Stadt habe jemals gewagt, vor den Pilgern von Compostela ihre Tore zu verschließen. Er und die Seinen seien erschöpft, er habe Kranke in seinem Zug und Verwundete, die unbedingt ins Hospiz müßten, denn sie seien von Briganten überfallen worden, und er verlange, daß die Tore geöffnet würden!«
»Und was antwortet man ihm?«
»Don Martin wolle es nicht!«
So ging das Gespräch, immer schneller und heftiger werdend, einige Augenblicke hin und her. Schließlich bohrte Gerbert Bohat seinen Stab in die Erde, lehnte sich in wartender Positur darauf, während um ihn die Pilger sich ermattet und erschöpft auf den Boden lagerten.
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