»Wenn man sie totschlagen muß, dann schlagen wir sie tot«, flüsterte Josse unerschütterlich. »Aber hier müssen wir raus.« Plötzlich erklang in der Tiefe der Kirche das Geläute einer Glocke, dem unmittelbar der ernste, allmählich anschwellende unheimliche Gesang von etwa fünfzig Männerstimmen folgte. Cathérine fühlte, wie Hans vor Freude bebte. »Die Mönche«, sagte er. »Sie kommen uns mit ihrem Gesang zu Hilfe! Jetzt ist der Augenblick!«
Zusammen ergriffen die drei Männer Gauthier von neuem, hoben ihn auf, als wöge er überhaupt nichts, und schleppten ihn schnell an der Mauer entlang. Es war höchste Zeit. Gauthiers Stöhnen ließ nicht mehr nach. Aber die kräftigen Stimmen der heiligen Männer trugen den Gregorianischen Kirchengesang in die riesigen Gewölbe der Kirche und erfüllten sie mit einer strengen Harmonie, in der sich die Stimme des Verletzten verlor. Die Portale wurden fast im Laufschritt durchmessen. Es war wichtig, von der sich aus dem Kreuzgang nähernden Prozession nicht gesehen zu werden. Außer Atem, mit klopfenden Herzen fanden die vier Gefährten sich wieder unter dem Portalvorbau ein. Der Mond schien immer heller, aber entlang der Kathedralmauer zeichnete sich ein breiter, sehr schwarzer Schattenstreifen ab.
»Noch eine letzte Anstrengung«, keuchte Hans freudig, »und wir sind da. Vorwärts …«
Einige Augenblicke später schloß sich die niedrige Tür der Werkstatt geräuschlos hinter ihnen. Cathérine ließ sich erschöpft und überglücklich auf den Brunnenrand fallen. Unfähig, ihre überanstrengten Nerven noch länger im Zaum zu halten, brach sie danach in krampfhaftes Schluchzen aus.
6
Gelassen ließen Hans, Josse und Hatto Cathérine sich ausweinen. Sie trugen Gauthier unter den Schuppen, wo der Steinmetz seine Blöcke aus Sandstein und Travertin lagerte, legten ihn auf ein Bett aus Stroh, das Hatto schnell zusammengelesen hatte, und machten sich daran, ihn zu untersuchen. Cathérine, die sich plötzlich ihres Alleinseins bewußt wurde, hörte auf zu weinen, trocknete sich die Augen und gesellte sich zu ihren Gefährten. Die Tränen hatten ihr gutgetan. Sie fühlte sich außerordentlich entspannt und von ihrer körperlichen Ermüdung befreit. Es war wunderbar, Gauthier der Grausamkeit Don Martins entrissen zu wissen! Selbst wenn die Hälfte der Arbeit noch zu leisten war, selbst wenn er im Sterben lag …
Aber die Freude hielt nicht an, als sie den ersten Blick auf den großen, lang ausgestreckten Körper warf. Er war mager, furchtbar schmutzig, und wenn sich seine Augen manchmal öffneten, blieb ihr grauer Blick verschwommen, matt. Als sie sich auf die junge Frau richteten, wurden sie von keinem Schimmer der Überraschung oder des Erkennens erhellt.
Cathérine konnte sich noch so sehr über ihn beugen, ihn leise beim Namen rufen, der Normanne sah sie zwar an, blieb aber teilnahmslos.
»Ist er wahnsinnig geworden?« fragte die junge Frau besorgt, »Offenbar erinnert er sich an nichts. Er muß sehr krank sein! Warum hat man ihn dann hierhergetragen statt in die Küche?«
»Weil es bald Tag wird«, antwortete Hans. »Wenn Urraca aufsteht, darf sie ihn nicht vorfinden.«
»Was macht das schon aus? Sie ist ja taub!«
»Taub, ja, aber weder blind noch stumm und vielleicht auch nicht so dumm, wie sie scheint. Wir werden diesen Mann behandeln, ihn so gut wie möglich waschen, ihn angemessen kleiden, ihn stärken, soweit es uns irgendwie möglich ist! Dann wird es Tag sein. Dann müssen wir ihn unverzüglich aus der Stadt hinausschaffen.«
»Aber wie kann man ihn in diesem Zustand mitnehmen? Was macht man mit ihm unterwegs?«
»Die Mittel, ihn mitzunehmen, werde ich Euch geben«, entgegnete Hans ernst. »Danach, Dame Cathérine, wird es Eure Aufgabe sein, das Schicksal dieses Mannes zu bestimmen. Ich kann Euch weder folgen noch ihn hierbehalten. Es hieße meinen Kopf riskieren und den aller meiner Leute … Außerdem, wenn ich Euch geholfen habe, aus instinktiver Sympathie und aus Haß gegen Don Martin, bin ich doch nicht lebensmüde und habe auch nicht die Absicht, die Arbeit, die ich hier leiste, aufzugeben. Ich muß Euch sagen, daß Ihr nicht mehr mit mir rechnen könnt, wenn Ihr diese Stadt einmal verlassen habt. Ich bedaure das … aber ich kann's nicht ändern.«
Cathérine hatte den Worten Hans' aufmerksam zugehört. Ein wenig Scham und Verwirrung durchfuhren sie. Dieser Mann hatte ihr spontan geholfen, und im Grunde ihres Unterbewußtseins hatte sie beinah geglaubt, daß er ihr weiterhelfen werde. Aber sie besaß zu viel gesunden Menschenverstand, um sich nicht sogleich einzugestehen, daß er völlig recht hatte, daß sie nicht noch mehr von ihm verlangen konnte. Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Hand hin.
»Ihr habt schon viel zuviel getan, mein Freund, und für alle diese zum Nutzen einer Unbekannten übernommenen Risiken bin ich Euch zutiefst und ehrlich verbunden. Und was mich betrifft, so seid beruhigt, ich habe den Problemen, die sich mir stellten, immer ins Auge sehen können. Ich werde mit dem da bestimmt zurechtkommen.«
»Und schließlich bin ich ja auch noch da«, brummte Josse in seiner lässigen Art. »Gehen wir zu den realistischen Dingen über. Ihr habt gesagt, Meister Hans, Ihr würdet uns die Mittel geben, ihn fortzuschaffen. Was für Mittel sind das?«
»Ein Fuhrwerk mit Steinen. Ich muß eine Ladung ins Hospiz des Königs neben dem Kloster Las Huelgas, eine halbe Meile vor der Stadt, fahren, um dort Reparaturen auszuführen. Wir brechen nach Öffnung der Stadttore auf. Euer Freund wird zwischen den Steinen versteckt werden. Die Lanzen der Wachen können nicht in der Ladung herumstochern. Wir werden Eure Pferde an den Wagen spannen, und im Kloster werde ich Euch einen anderen Wagen zum Transport dieses Mannes besorgen, wie ich mir auch andere Pferde besorge, um mein Fuhrwerk zurückzubringen. Das Folgende müßt Ihr der Gnade Gottes empfehlen.«
»So viel hätte ich gar nicht erhofft«, sagte Cathérine einfach. »Vielen Dank, Meister Hans!«
»Genug geredet. Beschäftigen wir uns jetzt mit ihm, und bereiten wir den Karren vor. Der Tag wird gleich anbrechen!«
Ohne noch ein Wort zu sprechen, machten sich alle vier an die Arbeit. Gauthier, von seinen Lumpen befreit, wurde gewaschen, mit ländlicher, aber anständiger und fester Kleidung versehen, die augenscheinlich aber zu kurz war, denn keiner der drei Männer hatte seine Maße. Auf seiner Kopfwunde, die man, so gut es eben ging, gesäubert hatte, hatten das Blut und die Haare eine dicke Kruste gebildet. Sie wurde in Ermangelung eines Besseren mit Hammelfett eingeschmiert. Man schnitt ihm die Haare und rasierte ihn, um ihn vollkommen unkenntlich zu machen. Er ließ alles wie ein Kind mit sich geschehen, stieß nur ab und zu einen kurzen Klagelaut aus. Aber gierig verschlang er die heiße Suppe, die vom Abend zuvor übriggeblieben war, und trank den Krug Wein aus, den Hans ihm anbot. Josse betrachtete ihn nachdenklich, während er trank.
»Er müßte noch viel mehr trinken«, bemerkte er. »Wenn er im Wagen schliefe, wäre es weniger gefährlich. Stellt Euch vor, die Wachen hörten seine unartikulierten Klagelaute!«
»Es ist unnötig, ihn betrunken zu machen«, sagte Hans. »Ich habe Mohnkörner zur Linderung von Schmerzen mit, für den Fall, daß meine Arbeiter sich auf dem Bau verletzen. Ich werde ihm jetzt gleich welche geben, in etwas Wein zerdrückt. Er wird wie ein Kind schlafen.«
Als sie ihre Pflegearbeit an Gauthier beendet hatten, war am Horizont ein weißer Streifen aufgetaucht und hatte die Nacht verdrängt. Kurz darauf erklangen die heiseren Stimmen der Hähne, die sich antworteten. Hans warf einen besorgten Blick zum Himmel.
»Machen wir jetzt das Fuhrwerk fertig«, sagte er. »Urraca wird bald aus ihrer Dachkammer herunterkommen.«
Schnell flößte er Gauthier den mit dem Schlafmittel vermischten Wein ein, wickelte ihn in eine Wagendecke und trug ihn zu dem in einer Remise neben dem Haus stehenden großen Karren. Dann fing er an, von Josse und Hatto unterstützt, Steinblöcke hinüberzutragen, die er so geschickt im Wagen verteilte, daß der Normanne durch sie verborgen wurde, ohne Gefahr zu laufen, verletzt zu werden. In die Lücken wurde Stroh gestopft.
Es war Zeit. Gauthier war gerade hinter seinem improvisierten Wall verschwunden, als die Hausbewohner erwachten. Die alte Urraca, die Schleiereulenaugen noch voll Schlaf, kam vorsichtig auf einer Art Leiter, die in den oberen Stock führte, herunter und begann, mit ihren ausgetretenen Latschen über den Hof und in die Küche zu laufen, Wasser aus dem Brunnen schöpfend, Holz aus dem Schuppen holend und in die Glut blasend, die sie am Abend zuvor sorgfältig mit Asche bedeckt hatte, bevor sie zu Bett gegangen war. Bald fing das Wasser im Kessel zu kochen an, während die Alte mit einem Messer, dessen Länge einen schaudern machte, dicke Scheiben Schwarzbrot abschnitt, die sie mit vom Küchenbalken losgehakten Zwiebeln auf den Tisch legte. Einer nach dem anderen, gähnend und sich reckend, kamen die Steinmetze von ihren Schlafstellen, wuschen sich prustend in einem Kübel kalten Wassers und kamen dann zum Tisch, um zu frühstücken. Cathérine, ebenfalls gähnend und sich reckend wie die anderen, hatte ihren Platz in der Kaminecke eingenommen, und dies nicht ohne Grund. Der frühe Morgen war sehr kalt, und sie war völlig durchfroren. Was Josse betraf, tat er so, als fiele es ihm schwer, richtig wach zu werden, und ging dann hinaus, um einen kleinen Rundgang über den Platz zu machen. Er wollte sehen, wie sich der neue Insasse des Käfigs im Tageslicht ausnahm. Hans blickte ihm mit einem besorgten Gefühl nach, beruhigte sich aber bald wieder. Das Augenblinzeln und Zungenschnalzen, mit denen Josse ihn bedachte, waren durchaus zufriedenstellend. Also wandte er sich an seine Arbeiter und begann, sie in ihrer Muttersprache anzureden. Cathérine erhaschte so nebenbei die Worte ›Las Huelgas‹ und verstand, daß der Baumeister ihnen ankündigte, er werde sich an diesem Tag in das berühmte Kloster begeben. Die Deutschen nickten zustimmend. Keiner sagte etwas. Einer nach dem anderen traten sie nach einem kurzen Gruß in Richtung der jungen Frau in die aufgehende Sonne hinaus und gingen mit hängenden Schultern, schon die ermüdende Tagesarbeit vor Augen, zu ihrer Baustelle. Hans warf Cathérine ein leises Lächeln zu.
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