»Mein Gott! Er wird es nie fertigbringen!« stöhnte Cathérine. Sie wollte sich gerade zu Hans hinstürzen, um ihm zu helfen, so gut sie konnte, als ihr der Atem stockte. Von der Treppe her tauchte ein Schatten auf. Sie hatte nicht mehr Zeit, zu schreien. Der Neuankömmling hatte drei Worte in einer ihr unbekannten Sprache gesagt und legte schon Hand an, Hans bei seiner Aufgabe zu helfen.

»Wer ist dieser Mann?« fragte Cathérine verblüfft.

»Habt keine Angst. Es ist Hatto, mein Vorarbeiter … Er hat erraten, was wir vorhaben, und will uns helfen.«

»Aus welchem Grunde?«

»Gottlieb, dem Don Martin die Hand hat abhacken lassen, ist sein Bruder. Man kann ihm vertrauen.«

»Da wir keine andere Wahl haben … ist jede Hilfe willkommen.«

»Wem sagt Ihr das? Ich habe geglaubt, es allein schaffen zu können. Aber dieser Käfig ist so schwer, daß er einem die Muskeln zerreißt.«

Ohne zu antworten und schaudernd über den Gedanken, den die letzten Worte Hans' bei ihr hervorriefen, trat Cathérine wieder zu Josse. Der Käfig hob sich jetzt schneller. Er erreichte den Rand der Plattform, ragte darüber hinaus … Mit einem Haken bewaffnet, haschte Josse nach einer der Querstangen und zog ihn zu sich heran.

»Vorsichtig …!« flüsterte Hans. »Vorsichtig! Es darf kein Geräusch entstehen.«

Das Manöver war schwierig, heikel. Cathérine hielt den Atem an und war trotz der nächtlichen Kälte schweißgebadet. Doch als nun auch sie den Querriegel des Käfigs packte, empfand sie ein lebhaftes Gefühl der Genugtuung. Einen Augenblick drehte sich das schreckliche Gefängnis einige Zentimeter über der Plattform, dann setzte es mit einer Langsamkeit, die Catherines Herz schneller schlagen ließ, endlich auf.

Die Männer an der Winde seufzten erleichtert.

Cathérine ahnte mehr, als daß sie's sah, wie sie sich mit dem Ärmel über die schweißnassen Stirnen wischten.

»Diese Nacht ist wirklich stockfinster!« brummte Hans. »Man kann fast nur tastend arbeiten … Findet ihr die Tür?«

»Ja«, flüsterte Josse. »Ich hab' sie vor mir!«

Der plumpe Eisenriegel, mit dem der Käfig verschlossen war, war wirklich so primitiv, daß er kein Problem bildete. Nachdem die Tür geöffnet war, schob sich Cathérine hinein und tastete mit ungeduldigen Händen nach der bewegungslosen, durchnäßten Gestalt im Innern.

»Er rührt sich nicht!« murmelte sie ängstlich. »Er muß tot sein …«

»Das werden wir sehen!« erwiderte Josse. »Tretet zur Seite, Dame Cathérine. Laßt uns machen …«

»Beeilt Euch!« brummte Hans. »Schaut Euch den Himmel an …«

Tatsächlich war ein leiser Schimmer hinter einer Wolkenbank aufgetaucht. Es war zwar nichts Bedeutendes, aber man konnte auf einmal etwas klarer sehen.

»Wenn einer der Wachtposten oder irgendein Bürger auf die Idee kommt, die Augen zu heben, und feststellt, daß der Käfig nicht mehr da ist, dann bekommen wir in wenigen Augenblicken die ganze Stadt auf den Hals! Und dann behüte uns Gott.«

»In allen Ländern der Welt«, entgegnete die junge Frau trocken, »ist eine Kirche eine Zufluchtsstätte …«

»Vielleicht in allen Ländern … aber hier bin ich nicht so sicher!«

Nicht ohne Mühe, aber mit unendlicher Behutsamkeit zogen die drei Männer den Gefangenen aus seinem Käfig. Er war tatsächlich vollkommen reglos. Man hörte ihn nicht einmal atmen. Rasch legte Cathérine ihm die Hand aufs Herz und zog sie gleich darauf mit einem erleichterten Seufzen wieder zurück.

»Er lebt!« hauchte sie. »Aber wie lange noch?«

»Schnell!« befahl Hans. »Zieht ihn aus!«

»Warum?«

»Das werdet Ihr gleich sehen. Um Himmels willen, beeilt Euch! Es wird immer heller.«

Wie zur Bestätigung seiner Worte hörte man unten auf dem Platz einen der Wachtposten husten. Dann das Geräusch einer auf Stein klirrenden Lanze. Die vier Komplicen erstarrten, die Herzschläge setzten aus, und sie warteten auf den Alarm, der unausbleiblich folgen mußte … Aber nichts kam! Vier Seufzer entrangen sich gleichzeitig den Lippen. Josse, Cathérine und Hatto machten sich daran, Gauthier auszuziehen, während Hans einen prallen Sack, den er mitgebracht hatte, öffnete. Er enthielt ein dickes, eiligst zusammengezimmertes Stück Holz, das ungefähr die Form eines zusammengekauerten Menschen hatte.

»Der Käfig muß immer besetzt erscheinen!« sagte Hans leise. »Wenn nicht, wird die Stadt morgen früh in Aufruhr geraten, und wir werden diesen Mann nie hinausbringen. Mit etwas Glück wird vor ein paar Tagen niemand den Ersatz bemerken.«

Cathérine hatte bereits begriffen, was der tapfere Deutsche vorhatte. Es war nicht schwer, Gauthier die Fetzen, die ihn bedeckten, abzunehmen. Schnell wurde der bewußtlose Körper in den Mantel gehüllt, den Cathérine mitgebracht hatte, während Hans seine künstliche Figur in den Käfig setzte und sie, so gut es ging, mit den Lumpen des Gefangenen und einigen Lappen von undefinierbarer Farbe, die er mitgebracht hatte, bedeckte. Eine Kugel aus Lehm, unter Lumpen verborgen, täuschte den auf die Arme gestützten Kopf vor. In der Dunkelheit der Nacht war die Illusion frappierend echt.

»Von den Türmen aus, am hellichten Tag gesehen, würde es einer genauen Prüfung vielleicht nicht standhalten«, meinte Hans. »Aber von unten gesehen, müßte es gehen.«

Die Hauptschwierigkeit waren die Ketten, mit denen der Gefangene gefesselt war. Hans hatte in dem Beutel, den er Josse anvertraut hatte, zwar Schlosserwerkzeug mitgenommen, aber es war nicht leicht, die Eisen abzunehmen, ohne Gauthier zu verletzen. Der geringste Schrei wäre verhängnisvoll. Als Hans den Handschellen mit einer Säge zu Leibe ging, hielt Cathérine den Atem an, denn es schien ihr, daß es fürchterlichen Lärm machen müsse, trotz der eingefetteten Lappen, mit denen sie umwickelt war. Aber der Baumeister bewies wirklich große Geschicklichkeit. Die Arbeit wurde so gut ausgeführt, daß der bewußtlose Mann nicht einmal einen Seufzer ausstieß.

Eiligst wurden die Eisen der plumpen Figur angelegt, und nachdem der Käfig wieder geschlossen war, bedienten Hans und Hatto erneut die Winde, während Cathérine und Josse dafür sorgten, daß er ohne Anprall hinuntergelassen werden konnte. Einige Minuten später hatte das scheußliche Folterinstrument seinen Platz am Turm wiedereingenommen.

Es war aber auch höchste Zeit!

Als hätte der Mond nur auf diesen Augenblick gewartet, trat er aus den Wolken hervor und warf sofort ein kaltes, hartes Licht auf die gesamte Landschaft. Gleichzeitig hörte man am Turm unten die Soldaten einige Worte in ihrer gutturalen Sprache wechseln. Cathérine sah Hans' Zähne blitzen und entnahm daraus, daß er grinste.

»Na also!« flüsterte er. »Der Himmel ist wahrhaftig auf unserer Seite. Jetzt gilt es, unseren Geretteten hinunterzutransportieren, was bei seinem Gewicht keine so leichte Sache sein wird. Die Turmtreppe ist steil, und es ist gut, daß Hatto uns zu Hilfe gekommen ist. Ihr, Dame Cathérine, werdet mit einer Fackel vorangehen, um uns zu leuchten. Gehen wir!«

Die drei Männer packten Gauthier, der eine bei den Füßen, die anderen beiden an den Schultern, während Cathérine sich beeilte, eine Fackel unter dem Schutzdach der Treppe anzuzünden. Dann setzte der Zug sich die Wendeltreppe hinab mit einer Langsamkeit in Bewegung, die verriet, wie anstrengend das war. Obgleich durch die Entbehrungen abgemagert, hatte Gauthier noch immer ein respektables Gewicht, und außerdem ließ sich der riesige Körper nicht leicht auf einer so schmalen Treppe tragen. Ängstlich ging Cathérine der Gruppe voraus, von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf den Verwundeten werfend, ob sich unter dem Schmutz und dem struppigen Bart das geringste Lebenszeichen zeigte. Aber nichts, kein Zucken, kein Verziehen des Gesichts. Nur das erleichterte Aufseufzen der drei Männer war zu hören, da man unten angekommen war und die Aufgabe jetzt leichter wurde. Leichter vielleicht, aber auch gefährlicher. Wenn einer der Mönche im Gebet den Kopf wandte oder einer der Wachtposten draußen auf den Gedanken käme, in die Kirche zu treten, wären die vier Verschworenen verloren. Es wäre um sie alle geschehen!

Auf Samtfüßen, den keuchenden Atem angehalten, glitten Cathérine und ihre Gefährten langsam zum Portal. Sie hatten es beinahe erreicht, als Gauthier plötzlich ein Stöhnen ausstieß, das in der von dem monotonen Gemurmel der Mönche kaum unterbrochenen Stille in Catherines Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts klang. Die drei Männer hatten gerade noch Zeit, sich mit ihrer Last in den Schatten eines riesigen Pfeilers gegen das geschlossene Gitter einer Seitenkapelle zu drücken, während die junge Frau dem Verwundeten schnell die Hand auf den Mund preßte.

Die Angst, die die Flüchtlinge während der folgenden Minuten erfüllte, war entsetzlich. Cathérine fühlte ihr Herz in schweren Schlägen in der Brust klopfen. An ihrem Ohr nahm sie den keuchenden Atem Hans' wahr, gegen den sie sich preßte. Die beiden Mönche im Chor hatten ihr Gebet unterbrochen. Sie wandten die Köpfe nach der Seite, von der das Geräusch gekommen war. Cathérine sah das scharfe Profil des einen im Schein einer Kerzenflamme. Der andere machte sogar eine Bewegung, als wollte er aufstehen, aber sein Begleiter hielt ihn zurück.

»Es un gato!«[1] sagte er. Und ohne sich weiter zu beunruhigen, nahmen sie ihr Gebet wieder auf. Aber die Lage der kleinen Gruppe hatte sich durchaus nicht gebessert. Unter ihrer Hand spürte Cathérine, wie der Mund Gauthiers Leben gewann. Er versuchte, das Hindernis abzuschütteln. Und der zarte Knebel, den ihre Hand bildete, würde das Geräusch nicht ersticken, wenn er wieder stöhnen sollte.

»Wie kann man ihn zum Schweigen bringen?« flüsterte Cathérine bestürzt und preßte ihre Hand so stark, wie sie konnte, auf Gauthiers Mund. Ein schwaches Stöhnen entrang sich ihm wie Wasser unter einem Fels. Von neuem sahen sie sich verloren. Die Mönche würden wieder innehalten. Diesmal würden sie nachsehen …