Er ging in den Hintergrund des Raums, zog aus einer Ecke eine zusammengerollte Matratze und breitete sie nicht weit vom Feuer aus. »Legt Euch hier nieder und versucht, ein wenig zu schlafen«, sagte er, zu Cathérine gewandt. »In den dunklen Stunden nach Mitternacht werden wir auf die Türme steigen und versuchen, an den Käfig zu gelangen.«

»Glaubt Ihr, wir werden ihn befreien können?« fragte Cathérine mit hoffnungsvoll blitzenden Augen.

»Heute nacht? Das glaube ich nicht. Man muß sehen, wie das alles von oben aussieht, und man muß die Flucht auch vorbereiten. Aber vielleicht werden wir ihm etwas zu essen und zu trinken geben können!«

Die Stimme des Nachtwächters hatte schon geraume Zeit Mitternacht ausgerufen, als die Tür der Werkstatt sich geräuschlos öffnete, um drei Schatten, zwei große und einen kleinen, durchzulassen. Außer den am Fuße der Türme wachestehenden Soldaten war keine Menschenseele auf dem Platz. Nur eine Katze flitzte vor den nächtlichen Spaziergängern davon … Cathérine, Josse und Hans glitten in den Schatten des Kreuzgangs der Kathedrale in Richtung auf das Seitenportal del Sarmental, zu dessen kleiner Tür Hans einen Schlüssel besaß. Er baute nämlich eine Kapelle neben diesem Portal. Den Atem anhaltend, schritten sie langsam weiter, sorgfältig achtgebend, daß sie nicht über die Steine am Boden stolperten. Unter dem Arm trug Josse einen Krug Wasser, während Hans eine Speckseite und einen kleinen Laib Weißbrot bei sich hatte. Nur Cathérine trug nichts. Sie ging, die Augen auf den Boden geheftet, und wagte nicht, den Kopf zu dem dunklen Käfig zu heben, der sich in der klaren Nacht abzeichnete.

»Achtung!« warnte Hans, als sie das Portal über einen Treppengang erreichten. »Kein Geräusch in der Kirche. Sie hallt wie eine Trommel wider, und es sind immer zwei betende Mönche da. Sie lösen sich die ganze Nacht über ab. Gebt mir Eure Hand, Dame Cathérine, ich werde Euch führen.«

Sie schob ihre Hand in die rauhe Pranke des Baumeisters und ging folgsam mit, während Josse den Saum ihres Mantels ergriff. Die kleine, in das hohe Portal eingelassene Tür knarrte unter der vorsichtigen Hand Hans' nicht. Die drei bemerkten im Chor die beiden betenden Mönche, die auf den Fliesen knieten und deren Tonsuren das gelbe Licht einer einzigen Öllampe reflektierten. Man hörte nur das Murmeln der beiden Stimmen, die sich in einem monotonen Singsang antworteten.

Hans bekreuzigte sich schnell. Dann zog er seine Gefährten durch die Kapelle, die sich im dichten Schatten der Pfeiler öffnete. Sie glitten wie Geister zur Treppe des Turms. Aber dort war es stockfinster. Hans schloß die Tür und schlug dann Feuer. Fackeln lagen auf der Erde bereit.

Er zündete eine von ihnen an, hob sie über dem Kopf empor, um die Wendeltreppe zu beleuchten.

»ich werde sie wieder auslöschen, wenn wir oben angelangt sind!« sagte er. »Schnell jetzt …«

Einer hinter dem anderen, stiegen sie die schmale Treppe hinauf, tasteten sie sich nach oben. Als Hans die Fackel mit dem Fuß austrat, waren alle außer Atem, so schnell waren sie hinaufgestiegen. Die scharfe Luft schlug Cathérine ins Gesicht. Man trat ins Freie, doch obgleich die Nacht klar und sternenübersät war, brauchten sie einige Zeit, um ihre Augen daran zu gewöhnen.

»Paßt auf, daß Ihr nicht fallt«, warnte Hans. »Es liegen überall Steine und Bohlen herum.«

Man befand sich tatsächlich auf der Hauptbaustelle des Deutschen, der über den viereckigen Türmen mit Blumenzierat versehene Spitzendächer errichtete, die seiner Begabung alle Ehre machten. Die riesige Winde hob sich mit ihrem großen Eichenrad gegen den Himmel ab, und Cathérine betrachtete sie mit dem Entsetzen, das man gegenüber einem Folterwerkzeug empfindet.

Von der bedachten Hand Hans' geführt, kam sie bis zu dem durchbrochenen Geländer des Turms und beugte sich vor. An dem dicken Tau der Winde aufgehängt, pendelte ihr der Käfig sanft entgegen, genau unter ihr. Zwischen den Bohlen, aus denen er bestand, konnte sie den Gefangenen sehen. Mit erhobenem Kopf betrachtete er den Himmel, aber eine unaufhörliche Klage entrang sich seinen Lippen, so schwach, daß Cathérine vor Qual schauderte. Sie wandte Hans einen flehentlichen Blick zu.

»Man muß ihn hochziehen, ihn aus diesem Käfig herausholen, und das sofort! Er ist verwundet!«

»Ich weiß, aber es ist nicht möglich, ihn heute nacht hochzuziehen. Die Winde knarrt fürchterlich. Wenn ich versuchte, sie in Betrieb zu setzen, würde ich die Aufmerksamkeit der Soldaten wecken. Wir würden nicht weit kommen.«

»Könntet Ihr nicht dafür sorgen, daß sie nicht knarrt?«

»O ja. Man müßte sie einfetten und ölen, aber das kann man nicht in dunkler Nacht bewerkstelligen. Außerdem, wie ich Euch schon sagte, muß die Flucht dieses Mannes gut vorbereitet werden. Im Augenblick werden wir versuchen, ihm zu helfen. Ruft ihn an … aber leise. Wir dürfen die Soldaten nicht aufmerksam machen.«

An Josses Gürtel geklammert, beugte Cathérine sich vor, bis sie beinahe das Gleichgewicht verlor, und rief leise:

»Gauthier! … Gauthier! … Ich bin's! Cathérine …«

Der Gefangene drehte langsam den Kopf zu ihr, aber nichts in seinem Verhalten deutete auf Überraschung hin.

»Ca…thé…rine?« sagte er mit einer Stimme, die aus einem Traum zu kommen schien. Und dann nach einem Augenblick, währenddessen die junge Frau ihre eigenen Herzschläge zählen konnte: »Ich habe Durst!«

Catherines Herz krampfte sich vor Kummer zusammen. War er bereits so schwach, daß die Worte ihn nicht mehr erreichten, daß er sie nicht mehr verstehen konnte? Sie unternahm noch einmal einen verzweifelten Versuch.

»Gauthier! Ich flehe dich an! Antworte mir! Sieh mich an! ich bin Cathérine de Montsalvy!«

»Wartet einen Augenblick«, flüsterte Hans, sie zurückziehend. »Geben wir ihm zuerst zu trinken. Dann werden wir sehen!«

Flink befestigte er den schmalen Hals des Krugs an einer langen Holzstange, die er über das Geländer schob und langsam in der, Käfig hinunterließ, bis der Krug die Hände des angebundenen Mannes berührte, der, die Augen noch immer erhoben, nichts zu sehen schien.

»Da, Freund!« befahl er. »Trinke!«

Die Berührung des irdenen Wassertopfes schien bei dem Gefangenen eine wahre Erschütterung hervorzurufen. Er ergriff ihn mit einem dumpfen Brummen und begann gierig zu trinken, in großen Schlucken, wie ein Tier an der Tränke. Der Krug wurde bis auf den letzten Tropfen geleert. Als nichts mehr drin war, ließ Gauthier ihn los und schien wieder in seine Erstarrung zurückzufallen. Cathérine murmelte bedrückt:

»Er erkennt mich nicht! Er scheint nur zu hören.«

»Das ist zweifellos das Fieber«, erwiderte Elans. »Er hat eine Kopfverwundung. Versuchen wir jetzt, ihn zu bewegen, etwas zu essen.«

Die kräftigende Nahrung hatte denselben Erfolg wie das frische Wasser, aber der Gefangene blieb gegenüber den Rufen und flehentlichen Bitten Catherines nicht weniger taub. Er hob die Augen zu ihr auf, sah sie an, als wäre sie durchsichtig, und wandte sich dann ab.

Von seinen Lippen drang eine Art monotonen Gesangs, langsam, undeutlich und unbewußt halb gesprochen, der Cathérine in Schrecken versetzte.

»Mein Gott! … Ist er wahnsinnig?«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Hans ermutigend, »aber ich sagte Euch ja: Er muß im Delirium sein. Kommt, Dame Cathérine, im Augenblick könnt Ihr nichts mehr für ihn tun. Wir gehen jetzt zurück. Morgen, im Laufe des Tages, werde ich Mittel und Wege finden, die Winde zu schmieren, damit sie nicht mehr knarrt. Morgen nacht können wir ihn vielleicht hochziehen.«

»Aber werden wir es überhaupt fertigbringen, ihn aus der Stadt herauszuschmuggeln? Die Tore scheinen stark und gut bewacht.«

»Alles zu seiner Zeit! Auch da habe ich eine Idee …«

»Mit einem guten Seil«, meinte Josse, der seit dem Betreten der Kirche kein Wort gesprochen hatte, »kann man sich immer an einem Wall hinunterlassen.«

»Jawohl … schlimmstenfalls! Aber ich habe vielleicht einen besseren Gedanken. Ein Baumeister lernt vieles, einfach dadurch, daß der die Augen aufmacht. Also, jetzt müssen wir wieder hinunter.«

Nach einem letzten Blick auf den Mann im Käfig ließ Cathérine sich zur Treppe führen. Im dunklen Schiff der Kathedrale sprachen die Mönche immer noch ihre Gebete. Sie hatten nicht einmal geahnt, daß die drei vorübergegangen waren. Die Pforte schloß sich geräuschlos. Cathérine und die beiden Männer befanden sich abermals auf der Straße.

Als man die Werkstatt wieder erreicht hatte, erteilte Hans seinen Gästen einige Ermahnungen.

»Für jedermann hier werdet Ihr Verwandte von mir sein, die sich auf dem Weg nach Compostela befinden. Trotzdem vermeidet, Euch unter meine Arbeiter zu mischen. Einige stammen aus meinem Vaterland und würden sich wundern, daß Ihr unsere Sprache nicht kennt. Sonst könnt Ihr kommen und gehen, wie es Euch gutdünkt.«

»Vielen Dank«, entgegnete Cathérine, »aber ich habe keine Lust dazu. Der Anblick dieses scheußlichen Käfigs macht mich ganz krank. Ich werde zu Hause bleiben.«

»Ich nicht!« sagte Josse. »Wenn es eine Flucht vorzubereiten gilt, muß man Augen und Ohren offenhalten.«

Der darauffolgende Tag war entsetzlich für Cathérine. In das Haus eingeschlossen, zwang sie sich, nicht nach draußen zu blicken, um den kalten Regen nicht zu sehen, der den ganzen Tag über fiel, und die Haßschreie und Verwünschungen nicht hören zu müssen, die sich von Zeit zu Zeit erhoben und deren Ziel sie nur zu gut erriet. Sie blieb den ganzen Tag allein, sah man von der alten Urraca ab, einer Gefährtin, die nichts Tröstliches an sich hatte. Gelegentlich entrangen sich den eingefallenen Lippen der Frau Worte, die Cathérine nicht verstehen konnte.