»Dann werde ich den Erzbischof aufsuchen … Sagtet Ihr mir nicht, er sei es gewesen, der Euch hierhergebracht habe?«

»O doch. Monseigneur Alonso ist ein gerechter und guter Mensch, aber leidenschaftlicher Haß bringt ihn in Gegensatz zu Don Martin. Es würde genügen, wenn er um die Begnadigung Eures Freundes bäte, damit der Alkalde sie verweigerte. Versteht: Der eine hat die bewaffnete Streitmacht, während der andere nur über Mönche gebietet. Don Martin weiß das genau … und mißbraucht diese Lage. Aber seht selbst … Zuvor trinkt jedoch ein wenig Wein. Ihr werdet es nötig haben.«

Die Sanftheit des Tons überraschte Cathérine. Sie hob die Augen, und ihr Blick kreuzte den dieses ruhigen Mannes, der ihr Wein anbot. Ein Unbekannter, der sich als Freund betrug – und instinktiv suchte sie nach dem Grund. Spontane Sympathie? Zweifellos, aber auch die Bewunderung, die sie in den Augen der Männer zu lesen gewohnt war. Sie kannte ihre Macht, und offenbar würde dieser hier ihr nicht entrinnen. Mechanisch führte Cathérine den Zinnbecher an die Lippen. Der herbe und starke Wein erwärmte sie und tat ihr gut. Sie leerte den Becher bis zur Neige und reichte ihn Hans zurück. »Also … was soll ich sehen?«

Sie folgte ihrem Gastgeber in einen niedrigen, feuer- und lichtlosen Raum, in dem Strohsäcke mit Decken in einer Reihe ausgebreitet lagen. Ein kleines, durch zwei dicke, kreuzweise angeordnete Stangen vergittertes Fenster ging auf den Platz hinaus. Der Raum war erfüllt von Schweiß- und Staubgeruch.

»Die Arbeiter, die ich mitbrachte, schlafen hier«, erklärte Hans. »Aber im Augenblick sind sie alle auf dem Platz … Schaut mal durchs Fenster!«

Draußen hatten Lärm und Gelächter wieder eingesetzt. Cathérine bückte sich. Was sie sah, entrang ihr einen Ruf der Verblüffung. An einer der mächtigen Hebewinden, die auf den Türmen der Kathedrale angebracht waren, um die Steine hinaufzuhieven, war der große Käfig an der Kirche hochgezogen worden und schwebte jetzt auf der Höhe der dritten Etage. Unten hatte sich die gaffende Menge versammelt und versuchte, den Gefangenen mit allem, was ihr in die Hände fiel, zu treffen … Cathérine wandte sich um und begegnete dem Blick des Baumeisters, der auf ihre Reaktion lauerte.

»Warum hat man ihn da hinaufgezogen?«

»Um die Menge zu belustigen. So wird sie bis zur Stunde der Einrichtung die Leiden des Gefangenen genießen können, denn, wohlverstanden, man wird ihm weder zu trinken noch zu essen geben …«

»Und … wann?«

»Die Hinrichtung? In acht Tagen!«

Cathérine stieß einen Entsetzensschrei aus, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.

»In acht Tagen? Aber bis dahin wird er längst tot sein …«

»Nein«, sagte hinter ihnen die rauhe Stimme Josses. »Der schwarzgekleidete Mann hat gesagt, der Bandit habe Bärenkräfte und halte es bis zur Hinrichtung, die ihm bevorstehe, gut aus …«

»Und wie wird diese Hinrichtung aussehen?« fragte Cathérine mit trockener Kehle.

»Warum sollen wir es ihr sagen?« wandte Hans ein. »Es wird genügen, wenn sie es am selben Tag erfährt.«

»Dame Cathérine kann den Dingen ins Auge sehen, Kamerad«, entgegnete Josse kühl. »Bilde dir nicht ein, daß du ihr etwas verbergen kannst!« Und sich an die junge Frau wendend: »In acht Tagen wird man ihn lebend abhäuten. Die Haut dieses außerordentlichen Mannes soll zur Bekleidung eines Standbildes Christi dienen. Den Rest wird man dann auf den Scheiterhaufen werfen.«

Vor Grauen sträubten sich Cathérine die Haare. Sie mußte sich an die Wand lehnen, so übel wurde ihr, und sie preßte die Hand auf den Magen. Elans wollte sie stützen, doch sie stieß ihn zurück.

»Nein, laßt. Es geht vorüber …«

»Hattest du es nötig, ihr das zu sagen?« brummte der Deutsche.

»Er hat recht getan … Josse kennt mich.«

Sie ließ sich auf einen der Strohsäcke fallen und stützte den Kopf in die Hände. Die erbarmungslose Epoche, in der sie lebte, die Schrecken des Krieges, die sie ohne Unterlaß erlebt hatte, waren ihr zu vertraut, als daß sie sich so leicht aufregte, aber das, was sie eben gehört hatte, überstieg jede Vorstellung.

»Sind diese Leute denn wahnsinnig? Oder bin ich's? … Kann man sich eine solche Barbarei überhaupt ausdenken?«

»Bei den Mauren, die Granada besetzt halten, kann man noch Schlimmeres sehen«, sagte Josse traurig. »Ich stelle fest, daß man in diesem Land noch blutgieriger ist als anderswo …« Cathérine hörte nicht mehr zu. Sie fragte, wie um die Bedeutung eines Christusbildes besser zu verstehen, ob eine solche Entweihung, eine solche Freveltat überhaupt möglich sei.

»Es gibt in der Kathedrale bereits eine Bildsäule dieser Art«, sagte der Baumeister ruhig. »Kommt jetzt! Bleibt nicht hier. Es ist kalt, und die Männer kommen bald zurück …«

Sanft nahm er sie am Arm, führte sie durch den Innenhof und in eine große Küche, die ganz hinten lag und die gesamte Länge des Hauses einnahm. Dort brannte ein Feuer unter einem rußigen schwarzen Kochtopf, dem ein höchst angenehmer Duft entströmte. Eine auf einem Hocker neben einem Faß sitzende alte Dienerin schlief tief, die Hände auf die Knie gelegt, mit geöffnetem Mund. Hans wies mit dem Kopf auf sie und hieß Cathérine, sich auf eine Bank zu setzen.

»Sie heißt Urraca. Und sie ist stocktaub! Wir können sprechen …« Er schüttelte die Alte, die die Augen aufschlug, sofort in einen Wortschwall ausbrach und, ohne die beiden Reisenden überhaupt zu beachten, sich daranmachte, den Topf auszuhaken, um ihn auf den Tisch zu stellen. Dann zog sie aus einer Truhe Näpfe aus Holz und füllte sie mit überraschender Schnelligkeit mit Suppe. Dies getan, kehrte sie wieder zu ihrem Hocker zurück, um zu schlafen. Hans gab Cathérine einen Napf in die Hände, bediente Josse und ließ sich mit dem seinen neben ihnen nieder.

»Eßt zuerst!« riet er, auf Catherines Napf deutend, die, von dem Gehörten überwältigt, keine Bewegung gemacht hatte. »Eßt! Danach werdet Ihr klarer sehen.«

Sie setzte den Napf mit der dicken Suppe aus Speck und Mehl an die Lippen, verbrannte sich und schnitt eine Grimasse. Das Gefäß auf den Tisch zurückstellend, betrachtete sie nacheinander ihre beiden Gefährten.

»Ich muß Gauthier retten! Ich könnte nicht mehr leben, wenn ich ihn auf diese schreckliche Weise zugrunde gehen ließe.« Ihre Worte fielen in das Schweigen. Hans fuhr ruhig fort zu essen, ohne zu antworten. Als er fertig war, schob er seinen Napf zurück, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und murmelte: »Dame, ich möchte Euch nicht widersprechen. Zweifellos war dieser Mann Euer Diener, Euer Freund vielleicht, aber die Zeit kann die Herzen verwandeln. Die Räuber von Oca sind furchtbare Geschöpfe, und dieser Mann war bei ihnen. Seine Seele wurde durch ähnliche Verbrechen, wie sie sie begingen, belastet. Warum wollt Ihr Euer Leben für einen dieser Verfluchten aufs Spiel setzen?«

»Ihr versteht das nicht! Ihr begreift nichts! Wie könntet Ihr auch? Kennt Ihr denn Gauthier? Wißt Ihr, was für ein Mensch er ist? Nehmt zur Kenntnis, Meister Hans: Es gibt im ganzen Königreich Frankreich niemand mit einem besseren Herzen, mit einer treueren Seele als ihn. Es sind erst einige Monate her, daß ich ihn verloren habe, und ich weiß, daß er sich weder für Gold, noch um seine Haut zu retten, in dieser Hinsicht geändert hat. Hört weiter, dann könnt Ihr urteilen!«

In wenigen einfachen Sätzen, ohne irgendwelche sensationellen Wirkungen erzielen zu wollen, schilderte sie dem Deutschen das Leben Gauthiers in ihrer Nähe, wie er sie beschützt, viele Male gerettet hatte, wie er aufgebrochen war, um Arnaud zu suchen, wie er schließlich in einer Schlucht der Pyrenäen verschwunden war. Hans hörte ihr wortlos zu.

»Versteht Ihr jetzt?« fragte sie schließlich. »Versteht Ihr, daß ich ihn unmöglich sterben lassen kann? Und ganz besonders nicht diesen schrecklichen Tod.«

Noch einen Augenblick schwieg Hans, seine Hände mit einer mechanischen Bewegung öffnend und schließend. Schließlich hob er den Kopf:

»Ich habe verstanden! Ich werde Euch unterstützen!«

»Warum solltet Ihr uns helfen?« fuhr Josse mit jäher Heftigkeit dazwischen. »Wir sind für Euch Unbekannte, und Ihr habt keinen Grund, Euer Leben für Unbekannte aufs Spiel zu setzen! Das Leben hat auch sein Gutes. Es muß Euch doch etwas daran liegen. Außer Ihr hofft, den Smaragd der Königin zu gewinnen …«

Hans stand so plötzlich auf, daß die Bank, auf der er gesessen hatte, mit lautem Krach hinter ihm umfiel. Er war hochrot geworden, und seine geballte Faust hob sich bis zu Josses Nase. »Sag das noch einmal, Freundchen, und ich schlage dich in Klumpen! Hans von Köln hat sich niemals für seine Dienste bezahlen lassen, merke dir das!«

Cathérine warf sich heftig zwischen die beiden Männer und zog mit ihrer kleinen Hand sanft die Josse bedrohende Faust zurück, die dieser übrigens völlig kaltblütig betrachtete.

»Verzeiht ihm, Meister Hans! Es ist heutzutage schwer, dem erstbesten Vertrauen zu schenken, aber ich glaube Euch. Es gibt zwei Augen, die sich nicht täuschen, und Ihr hättet nicht so gehandelt, wenn Ihr einen Hintergedanken gehabt hättet. Aber in gewissem Sinne hat Josse doch recht. Weshalb wollt Ihr Euer Leben für uns aufs Spiel setzen?«

Je länger die junge Frau sprach, desto mehr hatte Hans' Gesicht seine normale Farbe wieder angenommen. Als sie geendet hatte, widmete er seinem Gegner eine Grimasse, die zur Not als eine Art Lächeln gelten konnte. Dann zuckte er mit den Schultern und erwiderte:

»Wie soll ich das wissen? Sicherlich, weil Ihr mir gefallt, aber auch für mich selbst! Dieser Gefangene kommt aus dem Norden wie ich, wie Ihr. Und dann fängt er an, mich zu interessieren. Ich habe keine Lust, ihn von diesen blutrünstigen Tieren wie auf der Schlachtbank in Stücke schneiden zu lassen. Ich glaube, ich könnte danach nicht mehr ruhig schlafen. Und schließlich … hasse ich den Herrn Alkalden, der einem meiner Leute unter dem Vorwand, er habe gestohlen, die Hand hat abschlagen lassen. Mit Vergnügen würde ich ihm einen Streich spielen …«