Man sah nur seinen unförmig zusammengekauerten Körper. Die Enge des Käfigs gestattete ihm nicht, aufrecht zu stehen. Er saß da, den Kopf in den auf die Knie gestützten Armen verborgen, zweifellos, um sich gegen die Wurfgeschosse aller Art abzuschirmen, die die Bevölkerung mit wütenden Schreien gegen ihn schleuderte. Kohlstrünke, Pferdeäpfel und vor allem Steine regneten ohne Unterlaß auf den Käfig hinunter, aber die Masse Mensch, denn der Mann mußte ziemlich groß sein, zuckte nicht. Er sah erdfarben aus, so schmutzig war er, und man konnte weder die wirkliche Farbe seines Haars noch die seiner Haut unterscheiden. Graue, schmutzige Lumpen bedeckten ihn, doch an seinem Kopf konnte man das dunkle Mal einer frischen Verwundung sehen.

Die Menge schrie immer lauter, und die Wachen mußten von ihren Lanzen Gebrauch machen, um sie zurückzudrängen, sonst hätte sie den Käfig gestürmt. Fasziniert betrachtete Cathérine diese aufrührerische Szene, ohne ihren Blick abwenden zu können. Mitleid für den Unglücklichen in seinem jammervollen Zustand, auf den die Plebs sich stürzte, stieg in ihr auf. »Mein Gott!« murmelte sie, laut denkend. »Was hat dieser Unglückliche getan?«

»Verschwendet Euer Mitleid nicht, mein junger Herr«, bemerkte neben ihr eine Stimme mit starkem, schwerfälligem Akzent. »Es handelt sich nur um einen der verfluchten Straßenräuber, die die Berge von Oca im Osten dieser Stadt unsicher machen … Es sind blutgierige Wölfe, die stehlen, plündern, verbrennen und ihre Gefangenen einem schrecklichen Tod ausliefern, wenn sie kein Lösegeld zahlen können.«

Überrascht wandte sich Cathérine um. Es war ein Mann in den Vierzigern mit offenem und energischem Gesicht, das von einem blonden Bart schmeichelnd eingerahmt wurde, und mit einem Paar blauer, ehrlicher Augen. Aber die Gestalt war kräftig und stolz. Man konnte die starken Muskeln unter dem Rock aus grober brauner Wolle ausmachen, der von dem feinen weißen Staub bedeckt war, der die Steinmetzen charakterisiert. Das offene Lächeln, das er ihr bot, gefiel Cathérine.

»Wie kommt es, daß Ihr unsere Sprache sprecht?« fragte sie. »Ich spreche sie ziemlich schlecht, verzeiht mir«, erwiderte der Mann lachend, »aber ich verstehe sie ganz gut. Ich heiße Hans von Köln und bin Baumeister der Kathedrale«, fügte er hinzu, indem er auf die Gerüste, die das Gebäude umgaben, deutete.

»Aus Köln?« fragte die junge Frau erstaunt. »Was hat Euch denn so weit von Eurem Land fortgeführt?«

»Der Erzbischof von Karthagena, den ich während des Konzils in Basel vor drei Jahren kennenlernte. Aber Ihr, Ihr seid auch nicht von hier …«

Eine leise Röte überflog Catherines Wangen. Sie war auf diese Frage nicht gefaßt und hatte keine Antwort darauf bereit.

»Ich … ich heiße Michel de Montsalvy«, entgegnete sie überstürzt, um mit ihrer männlichen Kleidung im Einklang zu bleiben. »Ich reise in Begleitung meines Knappen, um das Land kennenzulernen!«

»Es heißt, Reisen bilde die Jugend. Das beweist, daß Ihr nicht unverfroren oder noch sehr unschuldig seid, denn diese Gegend hat nichts Angenehmes an sich. Die Natur ist rauh, und die Menschen sind Halbwilde …«

Er unterbrach sich. Die Menge war plötzlich in tiefes Schweigen gefallen, so daß man das dumpfe Stöhnen des angeketteten Mannes hören konnte.

Ein Trupp Stadtknechte näherte sich, angeführt von einem ganz in Schwarz gekleideten Mann mit strenger Miene, der auf einem kräftigen Andalusier ritt. Im flackernden Licht der Fackeln nahmen die kalten Züge des Ankömmlings den Ausdruck unerbittlicher Härte an. Langsam ritt er inmitten der schweigenden Menge auf den Käfig zu.

»Das ist der Alkalde Don Martin Gomez Calvo!« flüsterte Hans ängstlich und respektvoll. »Ein schrecklicher Mann! Unter seiner hochmütigen Maske verbirgt er eine Wildheit, schlimmer noch als die der Banditen von Oca.«

Tatsächlich wich die Menge vor ihm mit einer Eile zur Seite, die ihre Furcht offenbarte. Die Stadtknechte seines Gefolges hatten es nicht nötig, ihre Waffen zu gebrauchen; das Volk schien so viel Entfernung zwischen sich und den gefährlichen Mann bringen zu wollen, wie es nur konnte.

Im Schritt ritt Don Martin um den Käfig herum, dann zog er seinen Degen und stach den Gefangenen mit der Spitze. Der Gefesselte hob den Kopf und zeigte sein von einem wirren Bart umgebenes Gesicht. Ohne eigentlich zu wissen, warum, überkam Cathérine ein Schaudern, und sie trat, magnetisch angezogen, einige Schritte vor.

In der Stille hörte man jetzt den Gefangenen klagen.

»Ich habe Durst!« stammelte er auf französisch. »Durst!«

Das letzte Wort hatte er hinausgeschrien, und dieser Schrei überdeckte den, der sich mit unwiderstehlicher Gewalt Catherines Kehle entrang.

»Gauthier!«

Sie hatte sofort die Stimme ihres verlorenen Freundes erkannt, und das dichte, wirre Haar konnte ihr seine Züge nicht mehr verbergen. Wahnsinnige Freude überkam sie, ließ sie sogar das tragische Los des Gefangenen vergessen. Sie wollte zu ihm, aber die schwere Hand des Baumeisters legte sich auf ihre Schulter und nagelte sie auf der Stelle fest.

»Haltet Euch ruhig, um Himmels willen! Seid Ihr verrückt?«

»Das ist kein Bandit! Es ist mein Freund … Laßt mich zufrieden!«

»Dame Cathérine! Ich flehe Euch an!« mischte sich Josse ein, sich ihrer anderen Schulter bemächtigend. Hans zuckte zusammen.

»Dame Cathérine?«

»Ja«, rief Cathérine wütend, »ich bin eine Frau … die Gräfin Montsalvy! Was hat das schon zu besagen?«

»Sehr viel! Es ändert alles!«

Und ohne viel Federlesens griff sich der Baumeister Cathérine wie ein einfaches Paket, nahm sie unter den Arm, legte ihr die große Hand auf den Mund, um die junge Frau am Schreien zu hindern, und beförderte sie so zu einem hinter dem Kreuzgang der Kathedrale gelegenen niedrigen Haus, dessen Tür er mit dem Fuß aufstieß.

»Folgt uns mit den Pferden!« hatte er Josse zugerufen, während er sich in die Menge stürzte. Man beachtete ihn gar nicht. Aller Blicke waren auf den Alkalden und den Gefangenen gerichtet. Während sie den Platz überquerte, hörte Cathérine den hohen Beamten mit hochmütiger Stimme Befehle geben, die sie aber nicht verstand. Sie war sich lediglich des zufriedenen Murmelns des Volkes und der fast wonnigen Seufzer bewußt, die sich allen entrangen … Die Völker aller Länder ähneln sich, und Cathérine erriet, daß der Alkalde ihnen ein besonderes Schauspiel versprochen haben mußte.

»Was hat er gesagt?« wollte sie fragen, aber Hans' Hand erstickte ihre Worte. Er ließ sie auch nicht los. Nachdem sie in den dunklen, geräumigen Flur getreten waren, wandte der Deutsche sich an Josse, der hinter ihm eintrat:

»Schließt die Tür!« befahl er. »Und kommt!«

Der Gang öffnete sich auf einen Innenhof, in dem Steinblöcke aufgehäuft waren, und unter einer gedeckten Galerie bemerkte man einige roh zugehauene Statuen von Heiligen. Ein an einem Holzpfeiler aufgehängter Feuertopf gab etwas Licht, dessen Schein bis zum Rande eines alten römischen Brunnens in der Mitte des Hofs reichte. Dort angekommen, zeigte Hans Josse einen anderen Pfeiler, an dem dieser die Pferde festbinden konnte, und stellte dann Cathérine ziemlich unsanft auf die Füße.

»So!« sagte er befriedigt. »Jetzt könnt Ihr schreien, soviel Ihr wollt!«

Halb erstickt und rot vor Zorn, wollte sie ihm wie eine fauchende Katze ins Gesicht springen, aber er packte sie an den Handgelenken und hielt sie ohne Gewalttätigkeit fest.

»Ich befehle Euch, mich gehenzulassen!« schrie sie. »Für wen haltet Ihr Euch? Wer oder was hat Euch erlaubt, mich derart zu behandeln?«

»Die einfache Tatsache, daß Ihr mir sympathisch seid! Junger Herr oder Dame Cathérine, wie Ihr wollt, wenn ich Euch hätte gewähren lassen, wärt Ihr zu dieser Stunde überwältigt, von einem Dutzend Stadtknechte umgeben, gefesselt, in diesem Zustand ins Gefängnis gebracht und dort der Willkür des Alkalden ausgeliefert! Was wärt Ihr dann Eurem Freund noch nütze?« Catherines Zorn verebbte in dem Maße, wie der Baumeister seine klugen Worte von sich gab. Trotzdem wollte sie sich nicht so schnell geschlagen geben.

»Es hätte keinen Grund gegeben, mich einzusperren. Ich bin eine Frau, wie man Euch sagte, ich bin keine Kastilianerin, sondern treue Untertanin König Karls von Frankreich und Edeldame der Königin Yolande, geboren in Aragon, obendrein …Da!« rief sie, in ihren Almosenbeutel greifend und den gravierten Smaragd der Königin herausziehend. »Hier ist der Ring, den sie mir geschenkt hat … Zweifelt Ihr immer noch? Der Alkalde könnte sich nicht weigern, mich anzuhören!«

»Und wenn Ihr die Königin Yolande in Person wäret, könntet Ihr nicht sicher sein, diesen Klauen lebend zu entrinnen, um so weniger, als die Familie Aragon in Kastilien schlecht angesehen ist! Dieser Mann ist ein wildes Tier! Wenn er eine Beute in den Krallen hat, läßt er sie niemals wieder frei! Und was das Juwel betrifft, so würde es nur seine Begehrlichkeit wecken. Don Martin würde sich seiner bemächtigen und Euch in ein stinkendes Loch werfen lassen, bis Euer Freund hingerichtet ist.«

»Das würde er nicht wagen! Ich bin von Adel und Ausländerin! Ich könnte mich beschweren …«

»Bei wem? König Johann und sein Hof sind in Toledo. Und selbst wenn sie hier wären, würde Euch das gar nichts nützen. Der Herrscher von Kastilien ist ein Waschlappen, den jede Entscheidung ermüdet. Nur einer könnte Euch ein günstiges Ohr leihen: der wahre Herr des Königreichs, der Konnetabel Alvaro de Luna!«

»Dann werde ich zu ihm gehen …«

Hans hob die Schultern, holte einen auf einem Hocker stehenden Krug Wein und füllte drei Becher, die er zum Brunnen brachte.

»Wie wollt Ihr das anstellen? Der Konnetabel führt an den Grenzen Granadas Krieg. Der Alkalde und der Erzbischof sind die Herren der Stadt.«