Und plötzlich glaubte sie, aus dem Dunkel der Zeit eine dünne, lispelnde Stimme flüstern zu hören:
»Wenn du eines Tages einmal nicht mehr weiterweißt, komm zu mir. Vor meinem kleinen Haus am Rande des Genil blühen die Zitronen- und Mandelbäume von ganz allein, und die Rosenstöcke duften den größten Teil des Jahres. Du wirst meine Schwester sein, und ich werde dich die Weisheit des Islams lehren …«
Seltsamer, getreulicher Spiegel der Erinnerung! Der Eindruck war so deutlich, daß Cathérine plötzlich vor sich die zarte Gestalt eines jungen Mannes in einer weiten blauen Robe, mit einem absurd weißen Bart und einem gewaltigen orangefarbenen Turban in Form eines riesigen Kürbisses zu sehen glaubte. Sein Name kam ihr ganz natürlich von den Lippen:
»Abu! … Abu al-Khayr! … Abu, der Arzt!«
Sie mußte schon sehr tief in ihrem Schmerz befangen gewesen sein, daß sie nicht schon früher an ihn gedacht hatte. Abu, ihr alter Freund, lebte in Granada! Er war der Arzt und Freund des Sultans! Er würde schon wissen, was zu tun war, und würde ihr helfen, dessen war sie sicher!
Von plötzlicher Freude durchdrungen, zog Cathérine sich eiligst an, wickelte ihre Kleider zu einem Bündel zusammen, das sie unter den Arm nahm, und trat wieder zu Josse.
»Brechen wir auf«, sagte sie, »brechen wir schnell auf!«
Er sah sie an, verblüfft über ihre in so wenigen Augenblicken bewirkte Verwandlung, und konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Wahrhaftiger Gott! Dame Cathérine, ihr seht aus wie ein Kampfhahn!«
»Wir werden ja kämpfen, mein Freund, mit allen Waffen, mit allen Listen und Tücken, die sich uns bieten! ich will meinen Gatten dieser Frau entreißen, oder ich werde mein Leben verlieren! Zu Pferd!«
Wie Schatten glitten Cathérine und Josse aus dem Klostergang hinaus. Die einzige Gefahr bestand in der Durchquerung des großen Saals, aber das Feuer war schon heruntergebrannt. Es gab ausgedehnte dunkle Stellen … Während sie sich mit der Vorsicht einer Katze zwischen den ausgestreckten Körpern hindurchwand, warf Cathérine, durch ihre Verkleidung gut geschützt, einen Blick zum Feuerherd hinüber. Jan van Eyck stand aufrecht davor, das Gesicht zur Glut gewandt, und unterhielt sich leise, aber lebhaft mit Ermengarde. Wahrscheinlich besprachen sie ihren Plan … Cathérine konnte sich eines Lächelns nicht enthalten und sandte ihnen ein spöttisches, stummes Lebewohl hinüber.
Langsam gelangten die beiden Flüchtlinge zur Tür. Vorsichtig öffnete Josse sie halb. Aber das leise Geräusch des Öffnens wurde von dem tiefen Schnarchen der Navarreser, die ganz in der Nähe durcheinanderschliefen, überdeckt … Cathérine glitt hinaus, und Josse folgte ihr.
»Gerettet!« flüsterte er. »Kommt schnell!«
Er ergriff ihre Hand und zog sie aus dem Hospizbereich hinaus.
Unter dem Gewölbe des Torweges standen wartend zwei Pferde, gesattelt, die Hufe mit Lappen umwickelt. Freudig streckte Josse den Arm aus und wies zum Himmel, wo sich Wolken ballten. Der Mond war schon fast völlig aufgeschluckt. Das gefährliche, allzu helle Licht nahm von Minute zu Minute ab.
»Seht! Der Himmel ist mit uns! In den Sattel, aber paßt auf! Der Weg ist holprig und gefährlich!«
»Weniger gefährlich als die Menschen im allgemeinen und die Freunde im besonderen!« entgegnete Cathérine.
Einige Augenblicke später ritten Cathérine und ihr Gefährte im kleinen, vorsichtigen Trab auf der Straße nach Pamplona. Mit einer trotzigen Gebärde grüßte die junge Frau im Vorbeireiten den riesigen Felsen, den nach der Legende das Schwert des tapferen Roland von oben bis unten gespalten hatte. Roland hatte einen Berg entzweigehauen. Sie würde noch Besseres tun! …
5
Josse Rallard zügelte das Pferd und streckte den Arm aus. »Das ist Burgos«, sagte er, »und die Nacht bricht an. Bleiben wir hier?«
Mit gerunzelter Stirn blickte Cathérine einen Augenblick auf die zu ihren Füßen liegende Stadt. Nach der unendlichen Einsamkeit des rauhen, vom Frost verharschten, sturmgepeitschten Hochplateaus, nach den weiten Ebenen von verwaschenem Gelb war die Hauptstadt der Könige von Kastilien enttäuschend. Eine große graugelbe Stadt, von Wällen derselben Farbe eingeschlossen und dem drohenden Massiv einer Feste beherrscht. Nichts besonders Bemerkenswertes: … Doch, eines: ein riesiger Bau, von Gerüsten umgeben, aber kunstvoll wie eine Klöppelarbeit geformt, wie ein Juwel ziseliert, der im schwachen Abendlicht wie aus rotgelber Ambra wirkte, überragte die Stadt, als wollte er sie unter seine Fittiche nehmen – die Kathedrale. Am Fuße der Wälle, überdacht von den Doppelbögen einer Brücke, floß träge und schlammig ein Fluß. All dies machte einen düster-kalten und feuchten Eindruck. Cathérine wickelte ihren dicken Reitermantel fester um sich, hob die Schultern und seufzte:
»Irgendwo müssen wir bleiben! Gehen wir also!«
Schweigend setzten die beiden Reiter ihren Weg fort, den leicht abschüssigen Hang hinunter, erreichten die Brücke, an deren Ende sich zwischen zwei mit Schießscharten versehenen Rundtürmen das Tor Santa Maria öffnete. Es war Markttag. Daher war auch die Brücke überfüllt; Bauern mit ziegelroten Gesichtern und schwarzen Bärten, mit starken Backenknochen und niedrigen Stirnen, in Ziegen- oder Schafsfelle gekleidet; Frauen in roten oder grauen Wollkleidern, die oft auf ihren von einem Schal umhüllten Köpfen irdene Töpfe oder aus Weiden geflochtene Körbe trugen; zerlumpte Bettler, barfüßige kleine Jungen mit blitzenden Augen, vermischt mit der ganzen Kavallerie der Straßen Spaniens: Eseln, Maultieren, grob gezimmerten Fuhrwerken, von denen sich gelegentlich, mit Mühe im Gleichschritt gehalten, das edle Streitroß eines Hidalgos abhob.
Cathérine und ihr Gefährte stürzten sich tapfer in das Gedränge und ließen ihre Pferde im Schritt gehen. Das pittoreske Hin und Her dieser lärmenden bunten Menge nötigte Cathérine nicht einmal einen Blick ab, ebensowenig wie die am Flußufer knienden Frauen, die mit viel Geschrei und viel Gespritze die Schafswolle der Hochebenen im gelben Wasser des Arlanzón wuschen … Seit ihrer Flucht in dunkler Nacht aus dem Hospiz von Roncevaux hatte sich die junge Frau anscheinend nicht für die zurückgelegte Route interessiert, es sei denn als Maßstab für die Zahl der Meilen, die sie noch von Granada trennten. Sie hatte ihrem Pferd Flügel gewünscht, hatte gewünscht, daß es wie sie selbst aus Stahl bestünde, um niemals anhalten zu müssen. Aber sie hatte eben doch mit den Beinen ihres Rosses, mit der Müdigkeit ihres fraulichen Körpers rechnen müssen, obgleich jede verflossene Stunde eine Leidensstation für sie bedeutete.
Die durch die Erzählung Fortunats, durch den Verrat Arnauds angestachelte Eifersucht in ihr ließ ihr weder Rast noch Ruhe. Cathérine durchliefen abwechselnd Stimmungen der Wut und der Verzweiflung, die die Strapazen des Rittes verdoppelten und sie erschöpften. Sogar in den Nächten, während der wenigen Stunden, in denen sie sich der Ruhe widmen mußte, war sie oft aufgewacht, in Schweiß gebadet, und glaubte, das Echo der ausgetauschten Liebesworte aus weiter Ferne zu hören. Sie stand dann auf, suchte die frische Luft und lief umher, bis sich ihr erregtes Blut beruhigt hatte. Am anderen Morgen brach sie mit kalten Augen und zusammengekniffenem Mund wieder auf, ohne zurückzublicken …
Nicht ein einziges Mal hatte sie sich über diejenigen, die sie zurückgelassen hatte, oder über eine eventuelle Verfolgung Gedanken gemacht. Was interessierten sie Jan van Eyck, Herzog Philippe von Burgund oder selbst die ungeschickte und tapfere Ermengarde de Châteauvillain? Von jetzt an war ihre Welt durch sieben Buchstaben, die den Namen Granada bildeten, und Josse Rallard begrenzt, den fremden Knappen, der ihr sklavisch ergeben war. Er hatte ihr versprochen, sie ins Königreich der maurischen Sultane zu führen, er hielt Wort, ohne zu versuchen, den Wall des Schweigens zu durchbrechen, mit dem Cathérine sich umgab.
Nachdem sie die Porta Santa Maria durchritten hatten, befanden sich die beiden Reisenden auf einem mit großen, runden Kieseln gepflasterten und an drei Seiten von Häusern mit Arkaden eingesäumten Platz, während die vierte Seite von der Kathedrale eingenommen wurde. Auch hier wimmelte es von Volk, besonders um die großen Körbe der Bauern herum, die, auf dem Boden sitzend, die wenigen Erzeugnisse ihres Landes zum Verkauf anboten.
Ein Zug von Mönchen, die mit voller Stimme eine Litanei sangen, verschwand hinter einer Kirchenfahne her in die Kathedrale, und hier und da schlenderten in Gruppen zu zweien oder dreien Soldaten durch die Menge.
»Es gibt etwas weiter ein dem heiligen Lesmes geweihtes Pilgerhospiz«, sagte Josse, sich an Cathérine wendend. »Wollt Ihr dahin gehen?«
»Ich gehöre nicht mehr zu den Pilgern«, antwortete Cathérine trocken. »Und da sehe ich eine Herberge … gehen wir hin.«
Tatsächlich öffnete einige Schritte von den Reisenden entfernt die direkt an die Stadtmauer angelehnte Herberge zu den Drei Königen ihre niedrige Pforte unter einer schwarzen Holzarkade. Cathérine stieg ab und ging entschlossen darauf zu, hinter ihr Josse, der die beiden Pferde am Zügel führte.
Sie wollten gerade in die Herberge treten, als die Menge, bis dahin zwar lärmend, aber relativ friedlich, plötzlich wie mit einer einzigen Bewegung heulend dem Stadttor zustürmte. Es war ein so heftiger und wilder Ausbruch, daß er den Nebel der Gleichgültigkeit durchdrang, in den Cathérine sich hüllte.
»Was tun die da?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht! Ich glaube verstanden zu haben, daß sie irgend etwas entgegenstürzten, etwas, das sie erwarteten … Vielleicht dem König, der auf sein Schloß zurückkehrt …«
»Wenn es weiter nichts ist …«, seufzte Cathérine, die Pomp, selbst königlicher Pomp, noch weniger interessierte als alles übrige. Trotzdem betrat sie die Herberge nicht. Ja, sie ging langsam in Richtung der Porta Santa Maria zurück, aus der ein seltsamer Zug auftauchte, vor dem die Menge jetzt zurückflutete. Auf dem holprigen Pflaster schwankend, näherte sich langsam ein Bauernkarren inmitten einer Gruppe lanzenbewehrter Reiter. Auf diesem Karren war ein aus dicken Holzlatten gefertigter und mit festen Eisenbändern umgebener Käfig. Und in diesem Käfig war ein angeketteter Mann.
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