Van Eyck respektierte ihr Schweigen. Sein Künstlerauge war im übrigen von der schmalen Silhouette gefangen, die sich vom rötlichglühenden Hintergrund abhob. Der Fall der Robe paßte sich den Kurven ihres Körpers mit anatomischer Genauigkeit an. Das feine Profil schien aus Gold gemeißelt, und die langen Wimpern, welche die blauen Augen bedeckten, warfen einen erregenden Schatten. Und der Maler sagte sich erschauernd, daß diese Frau noch nie so schön gewesen war! Leben und Leiden hatten ihr die äußerste Frische der ersten Jugend geraubt, hatten sie aber geläutert. Ihre Schönheit war menschlicher und gleichzeitig reservierter geworden. Sie hatte den reinen Glanz eines himmlischen Geschöpfes, trotzdem war der sinnliche Zauber, den sie ausstrahlte, fast unerträglich.

Wenn der Herzog sie wiedersieht, dachte van Eyck, wird er sich ihr zu Füßen werfen wie ein Sklave … oder er wird sie umbringen! Aber er wagte nicht, seine eigenen Gefühle weiter zu analysieren. Im Wirrwarr seiner Gedanken trat nur eines klar hervor: der herrische, wütende Wunsch, diese quälende Schönheit noch ein einziges Mal auf einem Bild festzuhalten! Er entdeckte, daß sein letztes Werk, das Doppelporträt eines jungen Bürgers namens Arnolfini und seiner jungen Frau, auf das er mit Recht stolz war, ihm jetzt neben dem Porträt, das er von der neuen Cathérine malen könnte, schal vorkam. Und er war so völlig in seine Gedanken versunken, daß die Stimme der jungen Frau ihn zusammenfahren ließ: »Jan«, sagte sie leise, »warum seid Ihr gekommen?« Sie sah ihn nicht an, erriet trotzdem den Einwand, den er hervorsprudeln würde. »Nein«, fügte sie lebhaft hinzu, »gebt Euch nicht die Mühe zu lügen! Ich weiß sehr wohl Bescheid! Ich weiß, daß Ermengarde Euch erwartete, und ebenfalls, daß ich in diesem Rendezvous eine Bedeutung für mich zu sehen habe. Ich möchte wissen, welche?«

Sie gab ihre nachdenkliche Haltung auf, wandte sich um und blickte ihm ins Gesicht. Ihre großen, fragenden Augen lagen auf ihm. Wieder fühlte der Künstler, wie ihn soviel Anmut erzittern ließ.

»Dame Ermengarde hat nicht mich im besonderen erwartet, Cathérine, sondern einen Boten aus Burgund. Der Zufall wollte es, daß ich es war …«

»Der Zufall? Glaubt Ihr, ich hätte alle Gewohnheiten des Herzogs Philippe vergessen? Ihr seid sein geheimer Lieblingsgesandter … nicht irgendein Bote! Was habt Ihr der Gräfin gesagt?«

»Nichts!«

»Nichts?«

Van Eyck lächelte belustigt und fuhr fort: »Nein, nichts, meine schöne Freundin! Ich habe ihr nichts zu sagen.«

»Hättet Ihr mir etwas zu sagen … mir?«

»Vielleicht! Aber ich werde es Euch nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil die Stunde dazu noch nicht reif ist!«

Als die zarten Augenbrauen der jungen Frau sich zusammenzogen, trat der Maler auf sie zu und ergriff ihre Hände.

»Cathérine! Ich bin immer Euer Freund gewesen … und ich hätte leidenschaftlich gewünscht, mehr zu sein! Ich schwöre Euch bei meiner Ehre als Edelmann, daß ich immer der Eurige bin und daß ich Euch um nichts in der Welt etwas Böses antun würde. Könnt Ihr mir nicht vertrauen?«

»Vertrauen? Das ist alles so sonderbar, so verworren! Wie hat man in … Burgund erfahren, daß ich mit der Dame de Châteauvillain zusammen reise? Hat der Astrologe des Herzogs es in den Sternen gelesen?«

Diesmal brach der Maler in Lachen aus.

»Daran glaubt Ihr doch nicht – und mit Recht! Dame Ermengarde hat die Nachricht überbringen lassen. Ein von ihr geschickter Bote …«

Ein Zornesausruf schnitt ihm das Wort ab:

»Sie? Sie hat es gewagt? … Und sie nennt sich meine Freundin?«

»Sie ist Eure Freundin, Cathérine, aber sie ist nur Eure Freundin … nicht die des Mannes, dessen Namen Ihr tragt. Seht, sie glaubt ehrlich, und sie hat es immer geglaubt, daß Ihr einen falschen Weg einschlugt, daß Ihr niemals das Glück in der Richtung finden könntet, die Ihr gewählt habt. Es scheint, gesteht es, daß das Schicksal ihr immer recht gegeben hat …«

»Es ist nicht ihre Sache, das zu beurteilen! Es gibt etwas, was sie nie verstehen wird: die Liebe, die ich für meinen Gatten hege! Ich weiß wohl, daß man am Hofe Herzog Philippes mit dem Wort Liebe sehr verschiedenartige Gefühle bezeichnet, unter denen das Verlangen den größten Platz einnimmt. Aber für mich ist meine Liebe etwas Unvergleichliches. Arnaud und ich bilden eine Einheit, ein einziges Fleisch und Blut! Ich leide seine Schmerzen mit, und wenn man mich in Stücke schnitte, würde jedes einzelne dieser Stücke noch hinausschreien, daß ich Arnaud liebe … Aber weder Ermengarde noch der Herzog können solche Gefühle begreifen!«

»Glaubt Ihr? Bei Dame Ermengarde könnte es so sein. Sie ist einzigartig mütterlich und liebt Euch wie ihre eigene Tochter. Was Euch Unbehagen einflößt, ist, daß sie Herzog Philippe gegenüber ein ähnliches Gefühl hegt. Sie hat ihn nie mit ihrer Kritik und mit den bittersten Wahrheiten verschont, aber sie liebt ihn wie eine Mutter, und sie zermartert sich das Herz, weil sie geächtet ist, da ihr Sohn die Waffen gegen Philippe ergriffen hat. Sie hat geglaubt, ihm Freude zu bereiten, indem sie ihm Nachricht von Euch gab. Eben auch eine Art, ihm zu beweisen, daß sie ihn noch zärtlich liebt! Was ihn betrifft …«

Eine Zornesregung ließ Cathérine erstarren. Sie hob scharf den blonden Kopf und sagte:

»Wer erlaubt Euch zu glauben, daß ich die geringste Lust habe, davon zu hören?«

Van Eyck überging die Unterbrechung. Er wandte die Augen ab, ging ein paar Schritte zurück und sagte tonlos:

»Eure Flucht hat ihn aufgewühlt, Cathérine … und ich weiß, daß er daran noch leidet! Nein«, schnitt er ihr seinerseits das Wort ab, »sagt nichts mehr, da ich nichts hinzuzufügen hätte. Vergeßt alles, was Euch Sorgen macht, und denkt lediglich an eines: Ich bin nur Euer Freund, und in dieser Eigenschaft werde ich Euch morgen folgen. Seht sonst nichts darin! Ich wünsche Euch eine gute Nacht, schöne Cathérine!«

Und bevor die junge Frau eine Bewegung machen konnte, um ihn zurückzuhalten, öffnete er die Tür und verschwand.

4

Von den zur Hälfte geschleiften Wällen von St-Jean-Pied-de-Port an stieg die alte römische Landstraße ununterbrochen gute acht Meilen lang zum Paß von Bentarté hinauf. Der Weg war schmal, schwierig, schlüpfrig durch Reste alter Steinplatten, die ihn noch bedeckten und auf denen die kalte Höhenluft eine schwache Eisschicht gebildet hatte. Er war auch holprig und wand sich steil durch eine Landschaft, die dürrer und trockener wurde, bis sie sich im Himmel zu verlieren schien. Doch Cathérine und ihre Gefährten hatten auf den ihnen in Saint-Jean gegebenen Rat hin diesen Weg dem viel leichteren des Val Carlos vorgezogen, um zu vermeiden, in Gefechte verwickelt zu werden. Ein Raubritter, Vivien d'Aigremont, beherrschte den Weg durch das Tal mit seinen wilden Banden aus Basken und Navarresern. Gewiß, die die Dame de Châteauvillain eskortierenden Soldaten zusammen mit der Eskorte Jan van Eycks waren stark, gut bewaffnet und konnten den Ritt der Reisenden ohne allzuviel Gefahren sichern. Aber nach dem, was man von der sturen Brutalität und primitiven Wildheit der Leute d'Aigremonts gehört hatte, hatte man es mit nicht zu unterschätzenden Feinden zu tun, die obendrein noch an Zahl weit überlegen waren. Es war daher besser, den Höhenweg zu nehmen.

Je weiter man anstieg, desto kälter wurde es. Ein beißender Wind wehte ununterbrochen gegen die Ausläufer der Pyrenäen und jagte und trieb eisige Nebelschwaden hin und her, die manchmal Felsen in allernächster Nähe den Blicken entzogen. Seit dem Aufbruch am frühen Morgen sprach niemand. Man mußte genau aufpassen, wohin man seinen Fuß setzte, denn es hatte sich als nötig erwiesen, abzusteigen und die Pferde am Zügel zu führen, damit sie nicht stürzten. Und die lange, schweigsame Reihe, die sich im trüben grauen Licht am Berghang entlangzog, hatte etwas Geisterhaftes an sich. Selbst die feucht gewordenen Waffen waren glanzlos. Hinter sich hörte Cathérine Ermengarde schimpfen, die, von Gillette de Vauchelles und Margot la Déroule gestützt, nur mühsam vorwärts kam.

»Dreckwetter und Drecksland! Konnten wir nicht den Weg da unten nehmen wie Kaiser Karl der Große? Die Straßenräuber scheinen mir weniger zu fürchten zu sein als dieser Weg, der gerade gut genug für Bergziegen ist! In meinem Alter muß ich zwischen Felsen herumgaloppieren wie ein alter Klepper! Wenn so etwas einen Sinn haben soll …«

Die junge Frau konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Sie wandte sich halb um und sagte:

»Nun, Ermengarde, brummt nicht herum! Ihr habt es doch selbst so gewollt!«

Sie hatte der alten Dame keinen Ton von ihrer Unterhaltung mit van Eyck gesagt! Was konnte es schon nützen? Ermengarde hätte nicht verstanden, daß Cathérine ihre Handlungsweise als eine Art Verrat auffaßte. Sie hatte in gutem Glauben gehandelt, hatte Catherines Bestes im Sinn gehabt. Und schließlich waren der Maler und seine starke Eskorte ein guter Beistand für den kleinen Trupp in diesen schwierigen Landen. Und endlich, was immer die geheimnisvolle Botschaft sein mochte, die van Eyck ihr mitzuteilen hätte, »wenn die Zeit reif sein würde«, wußte sie nur zu gut, daß er keinerlei Macht über sie besäße, falls er versuchte, sie von ihrem Ziel abzubringen. Trotzdem, die Verschwiegenheit, die van Eyck ihr gegenüber bewahrte, irritierte sie und reizte ihre Neugier. Warum diese fast offizielle Reise, dieser Rang eines Gesandten, diese Bewaffneten, wenn es sich nur um eine Botschaft handelte? Aber Cathérine kannte Jan gut genug, um zu wissen, daß er erst sprechen würde, wenn seine Stunde gekommen war. Es war das beste zu warten … Und wenn sie seit dem Morgen schweigend dahinritt, von einer Traurigkeit übermannt, von der sie sich nicht lösen konnte; wenn sie die schwindelnd hohe Landschaft durchforschte, die flüchtig erblickten Abgründe zwischen den weißen Gipfeln, war es nicht seinetwegen, sondern weil sie an Gauthier dachte … Dies hier war die Kulisse seines Verschwindens, eine Kulisse, die ganz diesem Riesen angepaßt war, den sie für unzerstörbar gehalten hatte! Aber welcher Mann von Fleisch und Blut konnte es mit diesen Riesen aus Fels und Eis aufnehmen? Nie hätte Cathérine sich vorgestellt, daß es ein solches Land geben könne. Und sie wurde sich jetzt klar, daß sie bis zu dieser Minute gegen jede Vernunft, gegen alle Wahrscheinlichkeit gehofft hatte, ihr treuer Diener sei als Sieger aus diesem letzten Kampf hervorgegangen und sie werde ihn irgendwo, wunderbarerweise bewahrt, wiederfinden. Bis hierher hatte sie kommen müssen, um zu begreifen, daß es kein Wunder geben würde!