»Ich habe es satt, die Zeit zu vertrödeln, Ermengarde!« gab die junge Frau trocken zurück. »Es gibt auf Eurem Weg zu viele Leute, mit denen Ihr Euch zu unterhalten beliebt. Ich fürchtete, heute abend dieses Haus nicht mehr zu erreichen, und bin vorausgeritten.«

»Trotzdem scheint es mir …«, begann die Gräfin. Aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen, während ihre grauen Augen aufleuchteten. Auch sie hatte soeben das Wappen des Offiziers erkannt. Ein breites Lächeln glitt über ihre vom Schatten eines Schnurrbarts bedeckten Lippen.

»Es sieht so aus, als ob wir hier Gesellschaft hätten?« sagte sie mit einer Begeisterung, die Cathérine nicht entging. »Freunde, ohne Zweifel!«

Cathérine lächelte kalt.

»Freunde? Trotzdem würde ich Euch raten, zu fliehen und dem Herrn mit diesem Wappen aus dem Weg zu gehen, liebe Freundin. Vergeßt Ihr, daß Ihr geächtet seid und daß es um Eure Beziehungen zu Herzog Philippe mehr als schlecht steht?«

»Bah!« sagte Ermengarde mit schöner Unbekümmertheit. »Hier sind wir weit von Brügge und Dijon entfernt. Außerdem habe ich noch einige treue Freunde aus der Umgebung Seiner Gnaden des Herrn Philippe behalten! Und ich war, wie Ihr wißt, noch nie feige. Ich sehe den Dingen gern ins Gesicht!«

Und den Saum ihrer purpurroten Samtrobe hebend und ihre in festen Schuhen steckenden Füße zeigend, ging die Dame de Châteauvillain auf die Tür zu, vor der der Offizier immer noch stand und dieser imposanten Person entgegensah, die ihm allem Anschein nach gar nicht imponierte. Sie sprach ihn an: »Sag mir, Freund, wer ist dein Herr?«

»Gesandter Seiner Gnaden des Herzogs Philippe von Burgund, Grafen von Flandern, von …«

»Erspare uns die Titel des Herzogs, ich kenne sie besser als du, sonst stehen wir hier bei Sonnenaufgang noch herum! Sag mir indessen, wer ist dieser Gesandte?«

»Wer seid Ihr denn, daß Ihr mich solches fragt, Dame?« Der Gräfin blieb keine Zeit, ihrem Zorn Luft zu machen. Eine schmale, aber feste Hand hatte den Offizier beiseite geschoben, während ein noch junger, einfach, aber elegant in Wildleder gekleideter Mann auf der Schwelle erschien. Sein unbedeckter Kopf zeigte kurzes blondes, stark mit Grau durchsetztes Haar, per Widerschein des Feuers glitt über ein schmales Gesicht, dessen Lippen so dünn waren, daß sie wie versiegelt schienen. Eine lange, gerade Nase beherrschte sie. Der eisige Blick der leicht hervortretenden blauen Augen umfing die wütende Edle, und jäh veränderte sich sein Ausdruck: Ein Lächeln entspannte die regelmäßigen Züge, während die Augen freudig aufleuchteten.

»Meine teure Gräfin! Ich hatte schon gefürchtet, Euch zu verfehlen und …«

Eine versteckte, befehlende Bewegung der alten Dame schnitt ihm das Wort ab, aber es war schon zu spät: Cathérine hatte den ungeschickten Satz nicht nur gehört, sondern auch die Geste gesehen. Sie trat aus dem Schatten hervor und ging auf ihre Freundin zu:

»Und mich, Jan«, sagte sie kalt, »habt Ihr auch gefürchtet, mich zu verfehlen?«

Der Maler Jan van Eyck, Kammerdiener des Herzogs Philippe von Burgund und geheimer Gesandter bei vielen Gelegenheiten, gab sich nicht die Mühe zu heucheln. Die Freude auf seinem Gesicht war echt und ehrlich. Mit Schwung trat er vor und streckte der schmalen Gestalt die Hände entgegen.

»Cathérine! … Ihr? Seid Ihr's wirklich? Oder träume ich?« Er war so offensichtlich glücklich, daß die junge Frau ihre Verdrießlichkeit ein wenig schmelzen fühlte. Sie waren gute Freunde gewesen, damals, als sie gleichzeitig über den Hof von Burgund und das Herz des Herzogs herrschte. Mehr als einmal hatte sie diesem großen Künstler Modell gestanden, dessen Genie sie leidenschaftlich bewunderte und dessen treue Freundschaft sie schätzte.

Jan war sogar ein wenig in sie verliebt gewesen und hatte dies auch nie verborgen. Cathérine konnte sich also eines Gefühls der Freude nicht erwehren. Eines Gefühls, wie man es empfindet, wenn man einen alten Freund wiedertrifft, den man seit langem aus den Augen verloren hat. Sie hatte nur gute Erinnerungen an ihn, und die langen Sitzungen, die sie vor seiner Staffelei verbracht hatte, waren Stunden des Friedens und des Wohlbefindens gewesen, mit Ausnahme der letzten vielleicht. An jenem Tag hatte sie Kenntnis von der Krankheit des Kindes erhalten, das sie von Herzog Philippe gehabt hatte und das Ermengarde de Châteauvillain pflegte. Sie hatte beschlossen, Brügge zu verlassen, um nie mehr zurückzukehren, denn Jan van Eyck brach auch nach Portugal auf, wo er für den Herzog um die Hand der Prinzessin Isabelle anhalten sollte. Und dann hatte das Leben Cathérine ohne Unterlaß in seinem Stürmen fortgerissen. Sechs Jahre hatte sie van Eyck nicht wiedergesehen … Spontan legte sie ihre Hände in die ihr entgegengestreckten:

»Jawohl, ich bin's, mein Freund … und ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen! Was macht Ihr so weit von Burgund? Ich glaubte zu verstehen, daß Ihr ein Rendezvous mit Dame Ermengarde hattet?«

Während sie sprach, warf sie einen Seitenblick auf ihre Freundin und sah, daß diese leicht errötete. Aber van Eyck schien von ihren Worten nicht sonderlich bewegt zu sein.

»Rendezvous ist zuviel gesagt! Ich wußte, daß Dame Ermengarde nach Compostela in Galicia reiste, und da mein Auftrag mich auf denselben Weg führte, hoffte ich, mit ihr zusammen zu reisen.«

»Schickt Euch der Herzog denn zu dem Hochheiligen Herrn Jakob?« fragte Cathérine mit einer Ironie, die dem Künstler nicht entging.

»Nun«, meinte er lächelnd. »Ihr wißt doch, daß meine Missionen stets geheim sind. Ich habe nicht das Recht, darüber zu sprechen. Aber gehen wir hinein. Die Nacht ist hereingebrochen, und es wird frisch am Fuß dieser Berge!«

Von dem unter den alten Gewölben des Gemeinschaftsraums verbrachten Abend, in dem sich seit Jahrhunderten vom Glauben durchdrungene Menschenmengen versammelten, behielt Cathérine ein seltsames Gefühl der Unwirklichkeit und Unsicherheit zurück. Am großen Tisch zwischen Ermengarde und Jan sitzend, hörte sie ihrer Unterhaltung zu, ohne sich allzusehr einzumischen. Weshalb auch? Die Angelegenheiten Burgunds, über die sie sprachen, waren ihr so fremd geworden, daß sie nicht die geringste Spur von Interesse mehr in ihr erregten. Selbst der herzogliche Erbe, der junge Charles, Graf von Charoláis, den die Herzogin Isabelle vor einigen Monaten zur Welt gebracht hatte und den die beiden Burgunder offenbar leidenschaftlich liebten, schien sie aus ihrer Gleichgültigkeit nicht herausreißen zu können. Hier handelte es sich für sie um eine tote Welt für alle Zeiten.

Doch wenn sie auch ihrem Gespräch wenig Aufmerksamkeit schenkte, beobachtete sie ihre beiden Gefährten nichtsdestoweniger mit scharfen Augen. Soeben noch, als sie die ihr zugewiesene Zelle verließ, um in den großen Saal zu gehen, hatte sie Josse vorgefunden, der unbeweglich in der fast völligen Dunkelheit des Kreuzganges auf sie wartete. Als sie ihn aus dem Schatten hatte treten sehen, war sie zusammengezuckt, aber er hatte sofort den Finger auf die Lippen gelegt. Dann hatte er leise gesagt: »Dieser neu angekommene Herr aus Burgund … ihn hat die edle Dame erwartet!«

»Woher wißt Ihr das?«

»Ich habe sie soeben im Grasgarten gehört. Nehmt Euch in acht! Er ist Euretwegen gekommen!«

Er hatte keine Zeit, ihr mehr zu sagen, denn jetzt kam auch Ermengarde, von Gillette und Margot begleitet, die von ihrer mächtigen Persönlichkeit fasziniert schien. Cathérine hatte die weiteren Erklärungen auf später vertagt. Josse übrigens war wieder wie ein echter Geist in den Schatten getaucht. Daran dachte sie bei dem frugalen Mahl aus Kichererbsen, Milch und Äpfeln, während ihr Blick von dem langen, ruhigen Gesicht van Eycks zu dem munteren, lebhaften Ermengardes schweifte. Diese war so fröhlich, wie sie seit vielen Tagen nicht gewesen war, und Cathérine sagte sich, daß Josse sehr wohl recht haben könnte: Sie hatte den Maler erwartet. Andererseits, welchen Zusammenhang konnte dieses Treffen mit ihr, Cathérine, haben? Sie war nicht die Frau, die eine so erregende Frage lange ohne Beantwortung ließ, und als nach beendeter Mahlzeit Ermengarde, sich reckend und fürchterlich gähnend, aufstand, beschloß sie, zum Angriff überzugehen. Schließlich war der Maler bis zum Beweis des Gegenteils ihr Freund. Es würde seine Sache sein, den Beweis zu liefern!

Als die dicke Gräfin sich anschickte, den Raum zu verlassen, und van Eyck einen Kerzenhalter ergriff, um sie zu begleiten, hielt Cathérine ihn zurück:

»Jan! Ich möchte Euch gern sprechen!«

»Hier?« fragte er, einen unruhigen Blick auf eine Gruppe von Bergbewohnern werfend, die, um eine Schüssel Kichererbsen auf dem Boden sitzend, gemächlich in einer Ecke des Saales aß.

»Warum nicht? Diese Leute kennen unsere Sprache nicht. Es sind Basken. Schaut Euch ihre wilden Augen und ihre dunklen Gesichter an. Sie schenken uns überhaupt keine Aufmerksamkeit. Und dann«, fügte sie mit leisem Lächeln hinzu, »was läßt Euch glauben, daß die zwischen uns getauschten Worte von der Art sind, die den erstbesten interessieren könnten?«

»Ein Gesandter mißtraut immer … das ist sein Beruf!« erwiderte van Eyck mit einem Lächeln, das dem Catherines seltsam verwandt war. »Aber Ihr habt recht, wir können sprechen. Worüber?«

Cathérine antwortete nicht sofort. Sie ging langsam zu dem roh gebauten Kamin, in dem das Feuer allmählich herunterbrannte, stützte den Arm auf den Sims und legte ihre Stirn darauf. So ließ sie einen Augenblick die ganze Wärme durch alle Glieder ihres Körpers dringen. Sie liebte das Feuer wegen der merkwürdigen Zweiheit, die es in sich barg und die es je nach Umständen zum besten Freund oder zum schlimmsten Feind des Menschen machen konnte. Das Feuer, das erstarrtes Fleisch wiedererwärmte, das Brot bäckt und den Weg in der dunkelsten Nacht erhellt, das Feuer, das zerstört und verwüstet, das foltert und ausrottet! … Als Cathérine spürte, daß sie würde kämpfen müssen, war sie froh, das Feuer neben sich zu haben.