»Nie werden wir diese Berge überwinden …«

»Ihr werdet sehen, daß wir's können, Dame Cathérine«, entgegnete Josse Rallard. Treu seiner Gewohnheit, die er seit dem Aufbruch aus Figeac angenommen hatte, ritt er stets auf der Höhe der Kruppe ihres Pferdes. »Der Weg zeigt sich, je weiter man ihn verfolgt.«

»Aber«, fügte sie traurig hinzu, »wer nicht mehr weitergehen kann oder sich in diesem schrecklichen Land verirrt, kann nicht auf Rettung hoffen …« Plötzlich mußte sie an Gauthier denken, dessen mächtige Gestalt, die bis dahin unverwüstlich zu sein schien, die hohen Berge verschlungen hatten. Bis zu diesem Moment hatte Cathérine gehofft, ihn wiederzufinden, aber dies nur, weil sie die echten Berge nicht kannte. Wie konnte man solchen Riesen ihre Beute entreißen? …

Ohne ihre Gedanken zu kennen, warf Josse ihr einen neugierigen und unruhigen Blick zu.

Aber dunkel ahnend, daß sie des Trostes bedurfte, erwiderte er fröhlich.

»Warum dann? Wißt Ihr nicht, daß dieses Land das Land der Wunder ist?«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

Ermengarde einen kurzen Blick zuwerfend, die mit ihren Leuten etwas zurückgeblieben war und die Brückengebühren bezahlte, deutete Josse auf die schäumenden Wasser des Sturzbachs:

»Seht Euch dieses Flüßchen an, Dame Cathérine. Es sieht aus, als hätte man nicht die geringste Chance, lebend davonzukommen, wenn man es wagte, sich hineinzustürzen. Nun, vor drei Jahrhunderten ließ der König von Navarra seine junge Schwester Sancie de Béarn, die des Versuchs angeklagt war, ihr Kind zu töten, mit gefesselten Füßen und Händen in diesen Sturzbach werfen. Falls sie lebend wieder herauskäme, sollte ihre Unschuld erwiesen sein …«

»Gottesgericht?« rief Cathérine, mit Entsetzen auf das schäumende Wasser blickend.

»Ja, ein Gottesgericht! Die junge Gräfin war zart, ohne Kräfte und schwer gefesselt. Man warf sie von der Höhe dieser Brücke hinunter, und keiner der Mitwirkenden hätte einen Sou für ihr Leben gegeben. Trotzdem spülte sie das Wasser sicher und gesund ans Ufer. Natürlich haben die Leute von einem Wunder gesprochen, aber ich glaube, daß sich dieses Wunder jederzeit wiederholen könnte. Es genügt, daß Gott es will, Dame Cathérine. Was bedeuten also schon die Berge, die tosenden Elemente oder selbst die unerbittliche Zeit? Es genügt zu glauben …«

Cathérine antwortete nicht, aber der Dankesblick, den sie ihrem improvisierten Knappen zuwarf, bewies ihm, daß er genau getroffen und soeben einen Teil seiner Dankesschuld abgetragen hatte. Mit großer Ruhe sah sie, wie die Strahlen der Sonne die weißen Gletscher entflammten.

Sie ritt einen Augenblick dahin, ohne zu sprechen, die Augen auf die wunderbare rosige Feuersbrunst gerichtet, die sich da oben, ganz nahe dem Himmel, zeigte, mit ihren Gedanken völlig abwesend.

Josse hatte seinen Platz hinter ihr wieder eingenommen, aber plötzlich hörte sie ihn hüsteln, richtete sich auf und warf einen etwas verwirrten Blick zu ihrem Knappen zurück.

»Was ist denn?«

»Wir sollten vielleicht auf die Dame de Châteauvillain warten. Sie ist immer noch auf der Brücke.«

Cathérine hielt ihr Pferd an und drehte sich um. Tatsächlich schien Ermengarde sich noch angelegentlich mit dem die Wache befehligenden Sergeanten zu unterhalten. Cathérine hob die Schultern.

»Was macht sie denn da? Wenn das so weitergeht, werden wir Ostabat heute abend nicht mehr erreichen.«

»Wenn es nur von Dame Ermengarde abhinge«, bemerkte Josse ruhig, »würden wir es nicht einmal morgen abend erreichen.«

Cathérine hob die Brauen und warf ihm einen erstaunten Blick zu:

»Ich verstehe nicht! Erklärt Euch!«

»Ich möchte sagen, daß die edle Dame ihr möglichstes tut, um unsere Reise zu verlangsamen. Es ist ganz einfach: Sie erwartet jemand.«

»Jemand? Und wen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht diesen Sergeanten, der uns nach Aubrac so abrupt verlassen hat. Habt Ihr nicht bemerkt, Dame Cathérine, daß Eure Freundin oft zurückblickt?«

Die junge Frau begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Tatsächlich hatte sie mehr als einmal Ermengardes Treiben beobachtet. Nicht nur, daß sie keinerlei Eile hatte, nach Galicia zu kommen, sondern sie warf von Zeit zu Zeit auch besorgte Blicke hinter sich. Zornröte stieg Cathérine in die Wangen. So würde sie jedenfalls nicht mehr länger mit sich umspringen lassen, was immer für gute Gründe Ermengarde auch haben mochte. Auf der Brücke palaverte die Gräfin noch immer. Cathérine trieb ihr Pferd an:

»Vorwärts, Josse! Sie wird uns schon einholen! Ich jedenfalls habe beschlossen, noch heute abend in Ostabat zu sein. Um so schlimmer, wenn wir Madame de Châteauvillain hinter uns lassen. Ich weigere mich, noch mehr Zeit zu verlieren!«

Der große Mund Josses verzog sich bis zu den Ohren in einem stummen Feixen, während er sein Pferd in die Spur der jungen Frau lenkte.

Halb Feste, halb Hospiz, hatte die uralte Umspannstation Ostabat viel von ihrem ursprünglichen Wohlstand verloren. Die Zeiten waren schwer, da war besonders der seit Jahren wütende Krieg, der das Königreich Frankreich verwüstete – dies alles hatte die Pilgerfahrten gedrosselt. Die guten Leute zögerten um so mehr, sich auf die Landstraßen zu wagen, als die Truppen, sowohl englische wie französische, sich mit den Straßenräubern verbanden, was die gewöhnlichen Gefahren der großen Überlandwege noch um vieles erhöhte. Man mußte schon in großer Not oder bar jeder irdischen Güter sein, um sich auf eine solche Reise einzulassen, von der es oft keine Rückkehr gab. Und die großen Menschenmassen, die das alte, am Knotenpunkt dreier großer Straßen aus der Auvergne, aus Burgund und der Ile de France gelegene Hospiz hatte vorüberwandern sehen, schmolzen zu einigen durch das, was sie auf dem Weg gesehen hatten, bereits eingeschüchterten Gruppen zusammen, die außerdem die Gefahren der nahen Berge fürchteten, unter denen die berüchtigten baskischen Banditen nicht die geringste waren, ganz zu schweigen von den beunruhigenden, heimlichen Grenzführern, die ihre Dienste nur anboten, um den allzu vertrauensseligen Reisenden noch besser ausplündern zu können. Mehr als ein Raubritter hatte seinen befestigten Turm am Hang des großen Gebirges. Er diente diesen Galgenstricken als Schlupfwinkel.

Mit etwas Glück, hatte Ermengarde zu Cathérine gesagt, würden sie das Hospiz für sich allein haben und es sich dort bequem machen können. Doch als die junge Frau, von Josse gefolgt, durch das Tor ritt, sah sie mit Erstaunen im Hof einen ziemlich starken Pferdetrupp, um den sich emsig gut gekleidete Knechte kümmerten. Es standen auch Packesel herum, und um ein Feuer, dessen Flammen die Dämmerung erhellten, saßen etwa zehn Soldaten und ruhten sich aus, während ein riesiges Stück Fleisch darüber briet. Alles in allem das übliche Gefolge eines großen Herrn auf der Reise! Die Tür des Hospizes stand weit offen, und man sah die Kanoniker hin und her gehen, zweifellos, um den hervorragenden Gast zu bedienen, und ein mächtiges Feuer knatterte im Kamin.

»Es scheint, daß wir keine Einsamkeit zu fürchten haben werden«, murmelte Cathérine verdrießlich. »Ob man wenigstens eine Zelle für uns frei haben wird?«

Josse hatte keine Zeit zu antworten. Schon trat ein Klosterbruder auf die junge Frau zu.

»Der Friede des Herrn sei mit Euch, meine Schwester! Was können wir für Euch tun?«

»Uns Unterkunft und etwas zu essen geben«, antwortete Cathérine. »Aber wir sind mehr als zwei. Der Rest unseres Trupps folgt uns, und ich fürchte …«

Der alte Mann lächelte, so daß sein Gesicht sich in Falten legte: »Wegen dieses Herrn, der soeben angekommen ist, befürchtet nichts. Das Haus ist groß und steht Euch offen. Wollt Ihr absteigen? Ein Bruder wird sich um Eure Pferde kümmern.«

Doch Cathérine hörte ihn schon nicht mehr. Sie hatte eben auf der Schwelle des Pferdestalls einen Offizier bemerkt, der der Anführer der Soldaten sein mußte und, noch in voller Bewaffnung, über seinem Küraß einen Wappenmantel trug. Und trotz der zunehmenden Dämmerung war keine Täuschung möglich: Das auf der dicken Seide des Mantels zur Schau getragene Wappen kannte Cathérine nur zu gut. Es war das Wappen des Herzogs von Burgund!

Sie spürte, wie sie blaß wurde, und die Gedanken wirbelten wie rasend in ihrem Kopf. Aber es war doch nicht möglich, daß Herzog Philippe hier war! Dieses Gefolge konnte der Troß eines Herrn sein, trotzdem war es zu klein für den Großherzog des Westens! … Andererseits waren es eindeutig die Lilien, die herzoglichen Riegel und das Emblem des Goldenen Vlieses … dieses Goldenen Vlieses, das einst in Erinnerung an sie geschaffen worden war!

Ihre niedergeschlagene Miene und starre Haltung fielen dem Mönch auf, der sanft die Zügel des Pferdes schüttelte.

»Meine Tochter! Fehlt Euch etwas? Ist Euch nicht wohl?«

Ohne sich zu rühren, die Augen nach wie vor auf das beunruhigende Wappen gerichtet, fragte Cathérine:

»Dieser Herr, der hier angekommen ist … wer ist es?«

»Ein persönlicher Abgesandter Seiner Gnaden des Herzog Philippe von Burgund.«

»Ein Abgesandter? Wohin? In welches Land?«

»Wie soll ich das wissen? Ohne Zweifel zum Herrscher von Kastilien oder zum König von Aragon, wenn es sich nicht um den König von Navarra handelt. Aber Ihr seid sehr nervös, meine Tochter. Kommt! Die Ruhe wird Euch guttun.«

Etwas beruhigt, entschloß sich Cathérine abzusteigen, und zwar in genau dem Augenblick, in dem Ermengarde und der Rest des Trupps in den Hof des Hospizes sprengten. Hochrot, mit zusammengekniffenen Lippen und blitzenden Augen, stellte Ermengarde Cathérine wütend zur Rede.

»Na, meine Kleine, was wird hier gespielt? Seit Stunden galoppieren wir hinter Euch her, ohne Euch einholen zu können!«