Erster Teil
Die Pilger von Compostela
1
Der Nebel wurde von Augenblick zu Augenblick dichter und undurchdringlicher. Seine grauen Schwaden hüllten den erschöpften Pilgertrupp wie ein feuchtes Leichentuch ein … Wie lange war man so herumgezogen in dieser grasreichen, von Sümpfen und stillen grünen Teichen durchzogenen Einsamkeit? Stunden um Stunden! Doch nichts deutete daraufhin, daß das Marschziel nahe war. Der Wind hatte sich erhoben, heulte aus allen Richtungen des Hochplateaus und zerriß für Momente den Nebel, der sich sofort wieder schloß, dichter und schwerer.
Cathérine ging inmitten der anderen. Mit rundem Rücken, den Kopf unter dem großen, vom Wind heruntergedrückten Hut gesenkt, hielt sie, so gut sie konnte, die Schöße ihres Umhangs fest, den die Windstöße aufblähten, und stützte sich dabei mit aller Kraft auf ihren Stab, um besser gegen den Wind ankämpfen zu können. Seit fünf Stunden, seit dem Aufbruch von Le Puy, hatte sie die unschätzbare Hilfe kennengelernt, die dieser lange Stab gewährte, wenn die Müdigkeit einen schwer bedrückte. Um so mehr, als sie mit dem linken Arm eine ihrer Gefährtinnen, Gillette de Vauchelles, stützte, jene Frau, die ihr mit ihrer niedergeschlagenen Miene und dem unaufhörlichen Husten schon in der Ostermesse aufgefallen war. Es war eine Witwe in den vierziger Jahren, aus guter Familie und sehr gebildet, deren ernstes Gesicht jedoch unheilbare Traurigkeit verriet. Sie war sanft, melancholisch und tief religiös. Als Cathérine sah, wie sie sich, kurzatmig durch die dünne Höhenluft, auf dem Weg dahinquälte, hatte sie nicht umhin gekonnt, ihr ihre Hilfe anzubieten. Zuerst hatte Gillette abgelehnt.
»Ich würde Euch zur Last fallen, meine Schwester! Ihr habt genug Mühe, selbst vorwärts zu kommen.«
Das stimmte. Die Last des Tages war schwer genug für ihre Schultern, und zu allem anderen machten ihr auch noch ihre vom groben Leder der engen Stiefel wund geriebenen Füße zu schaffen. Aber sie fühlte den Drang, ihrer Gefährtin beizustehen. Sie lächelte sie freundlich an.
»Bei mir geht alles gut! Und zu zweit erträgt sich's besser!« Sich gegenseitig stützend, waren sie den beschwerlichen Weg gegangen, der im Laufe der verrinnenden Stunden immer anstrengender wurde. In den ersten Tagesstunden hatte man die Scheunen von Malbouzon verlassen, um die nur etwas mehr als zwei Meilen entfernte Priorei von Nasbinals zu erreichen, aber plötzlich hatte sich Nebel erhoben, und bald war man um die Erkenntnis nicht mehr herumgekommen, daß der Pfad, dem man folgte, weder der beste noch der richtige war. Nirgends waren die kleinen Steinpyramiden zu sehen, die ihn markierten. Worauf der Leiter der Pilger seine Gefährten um sich versammelt hatte.
»Wir müssen diesem Weg folgen, wohin er uns auch führt«, hatte er gesagt. »Wenn wir von ihm abweichen, laufen wir Gefahr, im Kreis herumzuirren. Er wird uns schon irgendwo hinführen, und auf jeden Fall ist es das beste, uns der Gnade Gottes anzuvertrauen!«
Zustimmendes Gemurmel hatte ihm geantwortet. Man hatte die Worte des Führers den Schweizern und Deutschen, die in der Nachhut marschierten und von denen übrigens mehrere beritten waren, übersetzt. Keiner von ihnen hatte Einwände erhoben, so groß war bereits der Einfluß dieses Mannes auf seinen bunt zusammengewürfelten Trupp. Er mochte ungefähr fünfundvierzig sein, aber Cathérine wußte nicht recht, was sie von ihm halten sollte. Seinen eigenen Äußerungen hatte sie entnommen, daß er Gerbert Bohat hieß und einer der reicheren Bürger von Clermont war, aber er entsprach ganz und gar nicht diesem Bilde. Groß und mager, sah er wie ein Asket aus. Und doch schien sein gequältes Gesicht das Brandmal aller menschlichen Leidenschaften zu tragen. Der gewohnheitsmäßige Ausdruck seiner grauen Augen war herrisch, doch dann und wann hatte Cathérine eine der Furcht nahekommende Unruhe in ihnen aufzucken sehen. Sein Blick war eisig, und wenn er auch unzweifelhaft Eigenschaften der Menschenführung offenbarte, hatte Cathérine nicht weniger den bestimmten Eindruck, daß Gerbert Bohat die Frauen verabscheute. Der Ton, in dem er sie ansprach, war kalt, kaum höflich, während er sich den männlichen Pilgern gegenüber durchaus freundlich zeigte. Doch als die Stunde des Gebets anbrach, entdeckte Cathérine, daß die Seele dieses Mannes sich entflammen konnte …
Seitdem Gerbert seinen Trupp verpflichtet hatte, diesen unbekannten Weg weiterzuverfolgen, war man unablässig marschiert. Einen Augenblick hatten sie einen Anhaltspunkt zu finden geglaubt, als sie auf eine einen Sturzbach überspannende Brücke aus der Römerzeit stießen.
»Das ist der Bès«, hatte Gerbert gesagt, »und dies ist die Brücke von Marchastel. Wir müssen geradeaus weiter. Wir werden nicht in Nasbinals Rast machen, sondern im Hospiz von Aubrac. Mut!«
Das Wort hatte alle aufgemuntert. Ein Mann, der die Pilgerreise schon einmal unternommen hatte, erklärte, es sei viel besser, ins Hospiz als nach Nasbinals zu gehen. Das einsame Hospiz würde die müden Reisenden aufnehmen können. Man hatte sich singend wieder in Marsch gesetzt. Aber der Nebel hatte das Land allmählich wieder überzogen, die Stimmen erstarben auf den Lippen, die nach trockener Luft verlangten. Von neuem war der Weg dem Zufall ausgeliefert.
Mitunter ließ ein Riß in der Nebelwand die Falle eines Torfstichs, den Spalt einer Schlucht oder die graue Wölbung eines Hügels erkennen, aber meist tappte man im Dunkeln, die Augen auf den Boden geheftet, um den Weg auszumachen. Und jetzt brach die Nacht herein, die die Gefahr noch vervielfachen würde. Sollte man hier, in der freien Wildnis, anhalten und im eisigen Wind kampieren, in den sich schon einige winzige Schneeflocken mischten? In den allerletzten Märztagen sind Frost und Schnee in den trostlosen Weiten des Aubrac nichts Seltenes. Trotz allem, trotz des scheußlichen Wetters und der schmerzenden Füße, ließ Cathérine den Mut nicht sinken. Um Arnaud zu finden, war sie bereit, noch zehnmal mehr zu ertragen.
Plötzlich strauchelte Gillette de Vauchelles über einen Stein. Sie fiel so heftig nach vorn, daß sie Cathérine mitriß. Eine Verwirrung in der Marschkolonne war die Folge, und sofort eilte Gerbert Bohat zu den beiden Frauen.
»Was ist hier los? Könnt Ihr nicht auf Eure Füße aufpassen?«
Der Ton war barsch, ohne jede Duldsamkeit. Cathérine antwortete ebenso scharf. Bereits ermüdet, war sie nicht geneigt, die schlechte Laune des Clermontesers zu ertragen.
»Meine Gefährtin ist erschöpft! Dieser Weg nimmt ja kein Ende! Wenn man ihn überhaupt einen Weg nennen kann! Und dieser Nebel …«
Der schmale Mund Gerberts verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln.
»Es sind erst fünf Tage, daß wir aufgebrochen sind! Wenn diese Frau krank ist, hätte sie zu Hause bleiben sollen! Eine Pilgerfahrt ist keine Vergnügungsreise! Gott will …«
»Gott will«, unterbrach Cathérine ihn trocken, »daß man sich seinen Mitmenschen mitfühlend und ihrer Not gegenüber hilfreich erweist! Es ist recht einfach, diese lange Bußfahrt zu unternehmen, wenn man bei vollen Kräften ist. Statt Eurer Vorwürfe, Messire, solltet Ihr lieber Eure Hilfe anbieten!«
»Frau«, erwiderte Gerbert, »niemand hier hat Euch um Eure Meinung befragt. Ich habe meine Aufgabe, die mir genügt: Ich habe diesen Trupp zum Heiligen Grab des Apostels zu führen! Jeder beliebige unserer Gefährten kann Euch helfen.«
»Darf ich mir die Bemerkung erlauben, daß ich Euch mit ›Messire‹ angesprochen habe? Ich bin es nicht gewohnt, mit ›Frau‹ angeredet zu werden! Ich habe einen Namen. Ich bin Cathérine de Montsalvy!«
»Vor allem habt Ihr einen unerträglichen Hochmut! Wir sind hier nur eine Versammlung von Sündern und Sünderinnen auf dem Weg zum Buße tun …«
Der gleichermaßen verächtliche wie predigende Ton des Clermontesers löste bei Cathérine den mit Mühe zurückgehaltenen Zornausbruch aus.
»Ihr habt es gerade nötig, vom Hochmut anderer zu reden, ›Bruder‹«, entgegnete Cathérine, absichtlich das Wort Bruder benutzend. »Das ist ein Thema, das Ihr offenbar ausgezeichnet kennt … nach der Wärme Eurer Nächstenliebe zu schließen!«
In den grauen Augen Gerberts blitzte ein Zornesfunkeln auf. Sein Blick und der Catherines maßen sich herausfordernd, aber die junge Frau schlug die Augen nicht nieder. Sie empfand eine Art wilder Freude angesichts der sichtbaren Wut des Mannes. Er mußte ein für allemal begreifen, daß sie nie und nimmer bereit sein würde, sich seinem Gesetz zu unterwerfen … Dies sagte Catherines veilchenblauer Blick ganz deutlich. Gerbert täuschte sich keineswegs darüber.
Mit einer instinktiven Bewegung hob er den mit einem dicken Stab bewaffneten Arm. Schnell warf sich einer der Pilger dazwischen, packte den erhobenen Arm und drückte ihn herunter.
»Aber, aber, Bruder! Mäßigt Euch! Vergeßt nicht, daß Ihr es mit einer Frau zu tun habt, nicht mit einem Diener. Mein Gott, was für ungehobelte Manieren ihr in eurer wilden Auvergne habt!« sagte der Neuankömmling mit spöttischem Unterton. »Wäre es nicht besser, wenn Ihr versuchtet, uns aus diesem Nebel herauszuführen, der uns in Mark und Knochen dringt? Der Ort hier scheint mir schlecht geeignet für einen solchen Streit, und ich würde der Dame Cathérine lieber helfen, unsere Schwester zum nächsten Wegziel zu bringen … wenn es überhaupt eins gibt!«
»Im Hospiz wird sie die Pflege erhalten, die sie braucht«, murmelte Gerbert, zu seinem Platz an der Spitze der Kolonne zurückkehrend.
»Wenn ich die Dächer sehe, werde ich an dieses Hospiz glauben!« meinte Catherines Verteidiger, während er ihr half, die arme Gillette aufzurichten, deren Knie vor Erschöpfung einknickten. »Man müßte diese Frau tragen …«, fügte er hinzu, während er sich suchend umsah. Cathérine lächelte ihm zustimmend zu. Sie hatte ihn vorher noch nicht bemerkt und wunderte sich über sein für einen Pilger ungewohntes Aussehen. Er war ein junger Mann, schlank und von mittlerer Größe, mit braunem Haar, dessen Gesicht in nichts der Vorstellung glich, die man sich im allgemeinen von einem frommen Pilger machte. Nichts an diesem Gesicht, das alles in allem außerordentlich ausdrucksvoll wirkte, schien im Gleichgewicht zu sein. Dicke, fleischige Lippen, auf die eine lange und kräftige, in der Mitte eingeknickte Nase herabstieß, kleine blaue, unter den Brauen tief eingegrabene Augen, ein eckiges, eigensinniges Kinn, eine Unzahl frühzeitig entwickelte Falten. Die Züge waren grob, doch die Physiognomie wirkte beweglich, der lebhafte Blick verriet Intelligenz, die spöttischen Fältchen in seinen Mundwinkeln ließen auf einen unwiderstehlichen Hang zur Ironie schließen.
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