Vergib mir, flüsterte sie vor sich hin und kam sich albern vor. Ich werde später um Vergebung bitten, nicht jetzt.
Ich kann meinen Arm oder meine Beine berühren, ohne mich schuldig fühlen zu müssen. Warum muß ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich meinen Körper entdecken möchte? Er gehört doch mir, oder nicht? Er gehört mir, damit ich ihn berühre, erforsche und mich an ihm freue.
»Eine gute kleine Katholikin sorgt dafür, daß ihre Gedanken und Hände stets beschäftigt sind.« Schwester Michael, sechste Klasse.
»Wenn ihr die Versuchung spürt, euch selbst zu berühren, dann denkt an die Heilige Jungfrau.« Schwester Joan, achte Klasse.
»Der Gedanke an eine unkeusche Handlung ist ebenso sündhaft wie die Durchführung dieser Handlung.« Pater Crispin.
»Wenn man sich selbst berührt, muß der Herr Jesus weinen.« Schwester Joan.
Aber ich muß die Wahrheit wissen, dachte Mary verzweifelt. Ich dachte, der heilige Sebastian hätte es getan; aber Dr. Wade sagt, ich selbst habe es getan.
Ich muß es wissen ...
Sie schloß die Augen und stellte sich den heiligen Sebastian vor. Sie stellte sich vor, daß er dicht vor ihr stand, der Lendenschurz auf dem Boden zu seinen Füßen. Sie sah das Spiel des Mondlichts auf den Erhebungen und Mulden seines schönen Körpers. Die Blutstropfen, die aus seinen vielen Wunden rannen. Die dunklen, grüblerischen Augen, die sie traurig und liebevoll anblickten.
Zögernd und unsicher schob sie ihre Hand über die Wölbung ihres Schenkels.
Vergib mir, dachte sie wieder.
17
Der Wind tobte durch die Collins Street, daß die Telefonmasten wackelten. Das kleine Haus der Familie Massey war dunkel, Fenster und Türen waren fest geschlossen. In der Einfahrt stand Lucille McFarlands Chevrolet.
Die beiden Mädchen waren allein im Wohnzimmer. Nur eine dicke Kerze brannte auf dem niedrigen Tisch. Mary lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und hörte Germaine zu, die ihr vorlas.
»... Das läßt mein Herz im Innern mutlos zusammenkauern.«
Das Taschenbuch lag aufgeschlagen auf ihren Knien. Sie las leise, mit singender Stimme, während Mary sich hin und wieder aufrichtete und ihre Gläser wieder mit Rotwein füllte.
»Blick ich dich ganz flüchtig nur an«, las Germaine weiter. »Die Stimme stirbt, eh sie laut wird, ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal läuft mir Fieber unter der Haut entlang.« Sie machte eine kleine Pause, warf einen kurzen Blick auf Mary und fuhr dann in weichem Singsang zu lesen fort. »Und meine Augen weigern die Sicht, es überrauscht meine Ohren, mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben alle Glieder, fahler als trockne Gräser bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein Aussehn .«
»Das ist sehr schön«, murmelte Mary. »Was ist das?«
Germaine hob den Kopf nicht, sondern ließ ihn über das Buch geneigt, so daß das herabströmende dunkle Haar ihr Gesicht verdeckte.
»Das ist ein Gedicht von Sappho.«
»Von wem?«
»Das war eine Dichterin im alten Griechenland. Sie schrieb Liebesgedichte.«
»Und wer war der glückliche Auserwählte?«
Germaine nahm ihr Glas, trank einen tiefen Schluck und antwortete dann: »Sie schrieb die Gedichte für eine Frau namens Atthis.«
Mary öffnete die Augen und sah die Freundin erstaunt an. »Ehrlich? Sie hat Liebesgedichte für eine Frau geschrieben?«
Germaine gab keine Antwort. Statt dessen klappte sie plötzlich das Buch zu und warf den Kopf zurück. Ihr Gesicht leuchtete in einem Lächeln. »Schenk mir noch was ein, Mary.«
Mary nahm die Flasche, zog den Korken heraus und goß Wein in beide Gläser. Sie war Alkohol nicht gewöhnt und fühlte sich von dem dunklen Rotwein in euphorische Stimmung versetzt.
»Also, wann wirst du jetzt geröntgt?« fragte Germaine.
»Nächste Woche.«
»Und was kann man dann sehen?«
»Vor allem das Skelett des Kindes.«
»Hast du Angst davor, Mary?«
»Nein - ich glaube nicht. Oh!« Sie drückte die Hand auf den Bauch. »Sie ist heute abend ganz schön wild. Das ist wahrscheinlich der Wein. Hier, fühl mal.« Sie nahm Germaines Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Spürst du, wie sie strampelt?«
»Ja.« Germaine zog ihre Hand rasch wieder weg.
»Wir haben überhaupt noch keine Babysachen gekauft. Meine Eltern wollen das Kind zur Adoption freigeben, aber ich weiß noch nicht. Es muß doch möglich sein, daß ich es versorge und trotzdem zur Schule gehe.« Sie nahm Ihr Glas und trank. Es schien ihr immer wärmer zu werden. »Du könntest mir doch helfen, Germaine. Was meinst du?« Germaine blickte auf das Buch in ihren Händen. Sie schien fasziniert vom Gesicht der Frau, die auf dem Umschlag abgebildet war. »Ich hab keine Ahnung, wie man mit kleinen Kindern umgeht, Mary«, antwortete sie abwehrend. »Ich bin kein mütterlicher Typ. Ich glaube nicht, daß ich jemals Kinder haben werde.«
Mary drehte sich etwas mühsam auf die Seite, stützte die Ellbogen auf und betrachtete Germaine aufmerksam. Es gab vieles an der Freundin, worüber sie sich Gedanken machte, aber sie hatte es nie ausgesprochen. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, daß gewisse Dinge unbesprochen zu bleiben hatten. Aber jetzt war sie neugierig, und der Wein hatte ihre Zurückhaltung gelockert.
»Du und Rudy, ihr schlaft oft miteinander, nicht?«
»Ja.«
»Und wie schaffst du's, daß du nicht schwanger wirst?«
Germaines Augen blitzten im Widerschein des Kerzenlichts. »Ich nehme ein Diaphragma.«
»Was ist denn das?«
»Man muß schon katholisch sein, um das nicht zu wissen. Es ist eine Form der Verhütung.«
»Oh!«
»Ja, ich weiß, daß du von Verhütung nichts hältst.«
»Es ist doch auch unnatürlich, oder? Sex ist zur Fortpflanzung da.«
»Sex soll Spaß machen, Mary, und Verhütungsmittel geben der Frau Freiheit. Warum sollen wir Frauen am Sex nicht den gleichen Spaß haben wie die Männer? Welches Gesetz schreibt uns vor, daß wir es ablehnen und ständig Angst haben müssen, schwanger zu werden?«
»Macht es dir Spaß?« fragte Mary leise.
Germaine trank erst einen Schluck Wein, dann sagte sie: »Ja.«
Mary ließ sich wieder auf den Rücken fallen und beobachtete die tanzenden Schatten an der Zimmerdecke. »Ich beneide dich. Deine Eltern sind so liberal, und du hast soviel Freiheit. Ich wette, du hast nie ein schlechtes Gewissen. Das muß herrlich sein. Ich wollte, ich wüßte, wie es ist.« Sie lachte kurz auf. »Es gibt einen Haufen Sachen, von denen ich gern wüßte, wie sie sind.«
Sie schloß die Augen und dachte an die umwerfende Entdeckung, die sie allein in ihrem Bett gemacht hatte. Sie konnte das Wunder des Orgasmus ganz allein herbeiführen und praktisch so oft sie wollte. Die Tatsache, daß sie es dem alten Pater Ignatius beichten mußte, minderte den Genuß nicht im geringsten.
Sie hätte gern gewußt, ob Germaine es auch tat; wie oft sie mit Rudy schlief; wie es war. Sie beneidete sie darum, daß sie es genießen konnte, ohne brav jeden Samstag einem Priester davon erzählen zu müssen. Mary beneidete Germaine um ihre liberale Mutter, die ihr erlaubte, Tampons zu benutzen. Lucille hatte es verboten; die Tampons würden das Jungfernhäutchen verletzen, hatte sie behauptet. Sie beneidete Germaine um ihren Rudy und die Tatsache, daß sie mit einem Mann schlafen konnte, so oft sie wollte.
Sie richtete sich wieder auf, nahm ihr Glas und trank. Germaine starrte wie hypnotisiert auf die Kerzenflamme und summte leise vor sich hin.
Nachdem Mary ihre eigene Sexualität entdeckt hatte, hatte sie angefangen, sich über die Einstellung anderer dazu Gedanken zu machen. Warum sagte ihre Mutter immer: >Kein anständiges Mädchen will das.< Warum hatten die Nonnen ihnen beigebracht, daß Sex für Frauen Pflichterfüllung sei, während der Trieb beim Mann etwas Natürliches sei.
Die Mädchen schwiegen beide, jede in ihre Gedanken vertieft. Es war ein wunderbarer Moment der Nähe und der Intimität, den beide als wohltuend empfanden.
»Mary?« sagte Germaine nach einer Weile leise.
»Ja?«
»Bist du wirklich überzeugt, daß es ein Mädchen wird?«
»Aber ja.«
»Ich habe Schwierigkeiten, an diese Theorie zu glauben.«
»Das kann ich verstehen. Aber du solltest mal hören, wenn Dr. Wade es erklärt. Dann wärst du auch überzeugt.«
Germaine warf einen verstohlenen Blick auf Marys dicken Bauch. »Ich würde gern wissen, wie es ist, wenn man ein Kind kriegt.«
»Wenn du's wirklich wissen willst, dann hör auf, dieses Ding zu nehmen, das Diaphragma, oder wie es heißt.«
Germaine senkte den Kopf. Ihr Gesicht war verdeckt, als sie gedämpft sagte: »Mary - ich muß dir was sagen.«
»Was denn?«
»Es ist ziemlich schwierig für mich.«
Mary drehte den Kopf und streckte den Arm aus, um mit den Fingerspitzen Germaines Schulter zu berühren. »Worum geht's denn?«
Germaine lachte kurz. Dann hob sie den Kopf und sah Mary direkt in die Augen. Ihr Gesicht schimmerte weiß im Kerzenlicht. »Ich wollte es dir schon lange sagen, weißt du, aber ich hab's nie fertiggebracht.«
»Germaine, du kannst mir alles sagen.«
»Ja, es ist wahrscheinlich der Wein ... Es handelt sich um Rudy, Mary.«
Mary sah die Freundin fragend an.
»Er existiert nicht«, sagte Germaine.
Mary fuhr hoch. »Was?«
»Ich hab gesagt, er existiert nicht. Es gibt keinen Rudy. Ich hab keinen Freund.«
»Das versteh ich nicht.«
»Ich hab ihn erfunden, Mary. Es gibt keinen Studenten namens Rudy, und ich habe keinen Freund, und ich schlafe auch nicht dauernd mit jemandem, wie du glaubst.«
»Aber - ich versteh dich nicht.«
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