Der Bischof nahm Pater Crispins Worte mit unergründlicher Miene auf. Er hatte das Gefühl, daß der Priester ihm das, weswegen er an diesem Abend wirklich zu ihm gekommen war, noch nicht gesagt hatte.

»Ihrer Meinung nach also befand sich das Mädchen im Zustand der Todsünde«, sagte er, »und dennoch haben Sie ihr die Hostie gegeben. Haben Sie das gebeichtet?«

»Ja, Pater Ignatius.«

»Dann ist Ihre Sünde vergeben. Wenden wir uns also nun dem Problem mit diesem Mädchen zu.«

Pater Crispin senkte den Kopf und blickte auf seine Hände. Er war immer noch nicht im Frieden mit sich selbst. Er war zu Pater Ignatius gegangen, weil der Mann halbtaub war und milde bei der Auferlegung von Bußen. Lionel Crispin war nicht besser als seine Gemeindemitglieder.

»Kommen wir also zu dem Mädchen, Lionel. Mir scheint, sie glaubt wahrhaftig an ihre eigene Unschuld. Wenn das so ist, hat sie keine Sünde begangen. Ich meine, wenn sie sich der sündigen Handlung nicht erinnern kann oder wenn sonst ein psychologischer Grund gegeben ist.«

»Ich glaube nicht, daß ein psychologischer Grund vorliegt, Exzellenz. Und ihr Arzt ist der gleichen Meinung wie ich.«

»Ach ja, der Arzt. Wie, sagten Sie gleich, heißt der Mann?«

»Jonas Wade.«

»Dieser Dr. Wade behauptet also, daß Mary McFarland seelisch gesund und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Dann scheint sie doch zu lügen. Aber der Arzt spricht von Parthenogenese. Was Sie mir darüber berichtet haben, ist sehr interessant. Ich würde darüber von Dr. Wade gern Genaueres hören.«

Pater Crispin hob mit einem Ruck den Kopf. »Sie können das doch nicht billigen, Exzellenz.«

»Das weiß ich noch nicht, Lionel. Mir sind noch nicht alle

Fakten bekannt, aber nach alledem, was Sie mir darüber berichtet haben -«

»Verzeihen Sie, Exzellenz -« Pater Crispin machte Anstalten aufzustehen -, »aber diese wahnwitzige Theorie über die Parthenogenese untergräbt doch alles, woran wir glauben.«

»Lionel, bitte bleiben Sie sitzen, und erklären Sie mir, inwiefern sie alles untergräbt, woran wir glauben. Ich finde ganz im Gegenteil, daß sie mit unserem Glauben durchaus in Einklang ist. Gründet denn unsere Religion nicht auf einer ebensolchen Lehre? Wurde nicht Eva auf ähnliche Weise erschaffen, ohne daß Geschlechtsverkehr stattfand, und die Heilige Jungfrau selbst ebenso?«

»Exzellenz, ich traue meinen Ohren nicht! Was heißt denn das, wenn ein unberührtes Mädchen infolge einer schlichten körperlicher Erschütterung schwanger werden kann? Was sagt das über die Mutter Gottes aus?«

»Ach, Lionel, sind Sie in Ihrem Glauben so leicht zu erschüttern? Kann es sich hier nicht um zwei getrennte Phänomene handeln? Vor zweitausend Jahren sprach Gott zu einer Jungfrau namens Maria und sagte, sie sei gesegnet. Als Katholiken müssen wir das glauben. Heute nun, im Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig, erhält ein unberührtes junges Mädchen namens Mary einen Stromschlag und ist plötzlich schwanger. Ich frage Sie, Lionel, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Maria wurde von Gott auserwählt; bei Mary McFarland handelt es sich um einen rein biologischen Vorgang. Wie kann diese Tatsache Ihren Glauben bedrohen? Sind Sie denn so schwach im Glauben?«

Pater Crispin zitterte. »Ganz im Gegenteil, Exzellenz. Mein Glaube ist stärker denn je. Ich bin unerschütterlich.«

Bischof Maloney kniff die Augen zusammen. Er sah deut-lich die Risse in der Fassade der Stärke, und er war beunruhigt. »Wenn ihr Glaube so stark und unerschütterlich ist, Lionel«, sagte er langsam, »wieso macht Ihnen dann dieser Fall angst? Der Mann in der eisernen Rüstung hat von Holzpfeilen nichts zu fürchten.«

Lionel Crispin schwieg. Er konnte den Aufruhr seines Herzens nicht in Worte fassen; die schleichende Angst, daß Wade recht hatte. Wenn das Mädchen nun wirklich unberührt war? Und wenn sie einen Sohn zur Welt brachte .?

»Lionel, was bedrückt Sie noch?«

Pater Crispin rang um Ruhe. Während draußen der Oktoberwind ums Haus pfiff, starrte er in die Flammen des Kamins und bemühte sich, seine Ruhe zu finden. »Dr. Wade sagte, das Kind könne eventuell geschädigt sein. Deformiert.«

Der Bischof runzelte die Stirn. »Wie deformiert?«

Pater Crispin konnte dem Freund nicht in die Augen sehen. »Schlimm. Eine Mißgeburt vielleicht.«

»Ich verstehe .«

Das Heulen des Windes in den leeren Straßen schien stärker zu werden. Der Sommer war vorbei. Lionel Crispin griff nach dem Glas Sherry, das auf dem Tisch neben seinem Sessel stand. Der Bischof hatte es ihm bei seiner Ankunft vor mehr als einer Stunde eingeschenkt; erst jetzt hob Lionel Crispin es an seine Lippen und trank einen Schluck. Während er dem Wind lauschte und den Sherry auf der Zunge zergehen ließ, dachte er: Bald ist Allerheiligen, dann kommt Weihnachten, dann Neujahr, und dann ist der Januar da ...

Er fand es widersinnig, daß das höchste christliche Fest, Weihnachten, an dem neues Leben und neue Hoffnung gefeiert wurden, ausgerechnet in die kälteste Jahreszeit fiel, in der alles tot war und nirgends Hoffnung grünte. Nein, das war nicht richtig. Ostern war das höchste christliche Fest, die Feier der Wiederauferstehung. Zumindest sollte es so sein. Aber bei den Leuten hatte das Osterfest keine so hohe Bedeutung wie Weihnachten; aus irgendeinem Grund richteten sie ihr Augenmerk lieber auf die Geburt Christi als auf seine Überwindung des Todes ...

»Lionel?«

Pater Crispin schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich war in Gedanken.«

»Was belastet Sie so?«

Pater Crispin suchte nach den rechten Worten. Wie sollte er die eisige Furcht in Worten ausdrücken, die ihn einschnürte. Sie werden vielleicht eine Entscheidung über Leben und Tod treffen müssen, hatte Jonas Wade gesagt. Lionel Crispin erinnerte sich eines grauenvollen Erlebnisses, das noch gar nicht so lange zurücklag. Er war in das Haus eines seiner Gemeindemitglieder gerufen worden. Die Ehefrau hatte eine Frühgeburt und starke Blutungen. Pater Crispin war gerade noch rechtzeitig gekommen, um der Frau die letzte Ölung zu geben und das Neugeborene zu taufen - eine schreckliche Mißgeburt, die keinen Kopf gehabt hatte, nur einen dicken Halsstummel mit zwei hervorquellenden Augen und einem Mund, der wie ein blutiger Schlitz aussah. Es hatte gelebt, hatte sich in der Schale geregt, in die der Arzt es gelegt hatte, während die Mutter in ihrem Bett verblutet war. Pater Crispin hatte sich beinahe übergeben. Selbst jetzt noch schauderte ihn bei der Erinnerung.

»Ich fürchte mich«, sagte er leise.

»Wovor?«

»Vor der Entscheidung.« Er sah dem Bischof direkt in die Augen, und Michael Maloney erschrak beim Anblick der unverhüllten Furcht. »Dr. Wade sagte, die Entbindung könnte mit Komplikationen verbunden sein, und ich würde vielleicht zwischen Mutter und Kind entscheiden müssen.«

»Aber das kann doch für Sie kein Problem sein, Lionel. Sie kennen Ihre Pflicht.«

Ja, ich kenne sie, schrie es gequält in ihm. Aber ich will diese Verantwortung nicht auf mich nehmen. Wie kann ich dieses schöne junge Mädchen sterben lassen, nur um ein Wesen taufen zu können, das vielleicht keine Minute lang am Leben bleibt, das der Gestalt nach überhaupt kein Mensch ist und nicht einmal auf natürliche Weise gezeugt wurde? Wie vor ihm Lucille McFarland fragte er: »Exzellenz, kann es eine Seele haben?«

Der Bischof, der spürte, daß Pater Crispins Ängste sich auf ihn zu übertragen drohten, stand auf. Groß und schlank blieb er am Kamin stehen und drehte den schweren Ring an seiner rechten Hand.

»Das Kind hat eine Seele, Lionel, ganz gleich, welchen körperlichen Ursprungs es ist. Und Ihre Pflicht ist es, diese Seele zu retten, Lionel. Der körperliche Aspekt des Kindes, so grotesk er sein mag, darf Sie nicht beeinflussen.«

Der Bischof schwieg einen Moment. Sein langer Schatten lag dunkel auf dem wertvollen Orientteppich.

»Lionel«, sagte er behutsam. »Niemand hat Ihnen versprochen, daß das Amt des Priesters leicht sein würde. Die Verantwortung für das Seelenheil der Menschen zu tragen ist keine leichte Aufgabe. Es bedarf großen Mutes, Entscheidungen wie dieser ins Auge zu sehen. Auch ich mußte während meiner Zeit als Priester solche Entscheidungen auf mich nehmen, und sie belasten mich heute noch. Lionel -« Michael Maloney trat zu dem Freund und legte ihm die Hand auf die

Schulter - »ich weiß, was Sie durchmachen, und ich bin überzeugt, daß dies eine Prüfung ist, die Ihnen von Gott auferlegt wurde. Beten Sie zum Herrn und seiner heiligen Mutter. Sie werden Ihnen beistehen. Vertrauen Sie mir.«

Lionel Crispin stand auf und ging wieder zum Fenster. Er legte die Stirn an das kalte Glas und dachte: Bitte, Herr, laß es ein normales Kind sein. Gib ihm Augen, Nase und Mund und einen richtigen Kopf ...

Er spürte, wie sein Herz zitterte. Es war eine Vorahnung. Mary Ann McFarlands Kind würde grauenhaft entstellt zur Welt kommen, und er, Lionel Crispin, würde aufgerufen sein, es zu taufen, um diese Seele zu retten, die die ewige Gnade nicht verdiente ...

Das Haus war Mary nicht dunkel genug. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, so daß das Mondlicht nicht in ihr Zimmer eindringen konnte. Dennoch wünschte sie, während sie bis zum Hals zugedeckt auf ihrem Bett lag, es wäre noch dunkler.

Wie tief muß man sich verstecken, fragte sie sich, wie finster muß es sein, bis man nicht mehr das Gefühl hat, daß die ganze Welt dich sehen kann und beobachtet?

Sie war nackt. Ihr Nachthemd lag unordentlich auf dem Boden. Sie hatte die Tagesdecke, die sie normalerweise abzog, wenn sie zu Bett ging, über der Bettdecke gelassen und bis zum Kinn hochgezogen.

Wie tief muß die Dunkelheit sein, wie viele Decken braucht man, wieviel Stille und Einsamkeit, ehe man sich seinem eigenen Körper zuwenden kann? Um die Nacktheit ging es nicht; es ging um das, was sie tun wollte.