Eiliges Klopfen an seiner Zimmertür riß ihn aus seinen Gedanken. »Jonas?« rief Penny von draußen.

Er machte auf.

»Ich dachte, du wolltest heute abend mit Cortney reden.«

Leichter Vorwurf schwang in ihrem Ton, und ihre Miene drückte Gereiztheit aus, die er sonst nicht an ihr kannte. Sie spähte an ihm vorbei ins Arbeitszimmer. Da lag die rote Mappe, die sie in letzter Zeit so häufig in seinen Händen gesehen hatte: beim Frühstück, auf der Terrasse, sogar wenn er vor dem Fernsehapparat saß. Immer wieder pflegte er sie aufzuschlagen, um hier ein Wort, dort einen Satz zu streichen und eine neue Formulierung einzusetzen. Penny wußte, daß das Projekt für Jonas sehr wichtig war, er hatte ihr darüber berichtet, hatte sie seinen ersten Entwurf lesen lassen - aber es begann sie allmählich zu ärgern, daß er darüber die Familie vernachlässigte.

»Cortney hat mir gesagt, daß sie Ende des Monats ausziehen will. Jonas, sie hört nicht auf mich. Du mußt mit ihr sprechen.«

»Gut«, sagte er. »Wo ist sie?«

»Aber Daddy, ich bin achtzehn Jahre alt. Es gibt einen Haufen Mädchen, die arbeiten und gleichzeitig zur Schule gehen. Brad hast du's doch auch erlaubt. Warum mir nicht?«

»Cortney, es sind ja nur noch drei Jahre, dann hast du deinen Abschluß und kannst dir die Arbeit suchen, die dir wirklich Spaß macht. Was willst du denn jetzt tun? Dich im Supermarkt an die Kasse setzen?«

»Warum nicht? Sarah arbeitet in einem Schnellimbiß. Wir teilen uns die Miete und die Ausgaben fürs Essen, und in die Schule fahren wir mit dem Rad. Sie wohnt nicht weit von der Schule.«

Jonas ließ sich in das weiche Polster des Gartensessels sinken und starrte geistesabwesend auf die welken braunen Blätter, die sich vom leichten Wind getrieben auf dem Wasser des Schwimmbeckens drehten. Eine für Oktober ungewöhnliche Kälte lag in der Luft, ein Vorgeschmack vielleicht auf einen harten Winter.

»Ich halte das nicht aus«, fuhr Cortney fort. »Ihr beiden, du und Mama, verlangt, daß ich jeden Abend um elf zu Hause bin. Ich finde das einfach lächerlich. Ich bin achtzehn, Dad.«

»Warum wiederholst du das so oft? Glaubst du, ich hätte es vergessen?«

Cortneys Gesicht wurde hart. Sie sah mit einem Schlag zehn Jahre älter aus. »Ja, das glaube ich. Du behandelst mich wie eine Fünfjährige. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ich möchte endlich auf eigenen Füßen stehen und für mich selbst sorgen.«

Jonas konnte es sich nicht verkneifen, Cortney mit Mary Ann McFarland zu vergleichen. Sie waren nur ein Jahr auseinander, aber Cortney wirkte reif und erwachsen, während Mary in vieler Hinsicht noch ein Kind war. Cortney hatte die Eigenständigkeit ihrer Mutter mitbekommen, Pennys Fähigkeit, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und jede Lage zu meistern. Gerade in solchem Moment, wo Cortney ihre Persönlichkeit geltend machte, hatte sie mehr Ähnlichkeit denn je mit Penny.

Während Jonas den pragmatischen Ausführungen seiner Tochter über ihr zukünftiges Leben zuhörte, musterte er ihr Gesicht. Ihre Stimme, ihre Worte verklangen, wie vom Winde weggetragen, während ihre Gesichtszüge eine ungeheure Klarheit gewannen. Es war beinahe so, als sähe Jonas sie zum erstenmal.

Nie zuvor war ihm die starke Ähnlichkeit Cortneys mit ihrer Mutter aufgefallen. Die lange, gerade Nase mit den schmalen Nasenflügeln, die schmalen Lippen, die leicht schrägstehenden Augen, die Linie der Wangenknochen und des Kinns -alles wie bei Penny. Und Cortney hatte auch die Manierismen ihrer Mutter geerbt, ihre Art, die Augen zu schließen, wenn sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, ihre Gesten, ihren Gang. Ihre Lippen bewegten sich auf die gleiche Weise wie Pennys, die Muskulatur darunter war nicht Cortneys, sondern Pennys. Je deutlicher das Jonas jetzt wahrnahm, zum erstenmal, um so unbehaglicher wurde ihm.

Stecke sie in ein Hochzeitskleid, flüsterte es in ihm, und du siehst das Mädchen, das du geheiratet hast.

Er ertappte sich dabei, daß er in ihrem Gesicht nach Anteilen von sich suchte. Guter Gott, war es Einbildung, oder hatte Cortney wirklich gar nichts von ihm mitbekommen? Würde ein Fremder auch Jonas Wade in ihr erkennen, oder würde er nur eine junge Penny sehen?

Das sind keine Nachkommen von Primus, hatte Dorothy Henderson gesagt. Sie sind Primus ...

»Daddy?«

Eine Kluft des Entsetzens und des Abscheus tat sich plötzlich vor ihm auf. Meine eigene Tochter. Wenn sie nun das Produkt irgend eines Aktivators wäre und nicht einer liebenden Umarmung? Hatte Pater Crispin wirklich recht? Hätte sie dann eine Seele?

Der Schrecken verging, Schuldgefühle und Reue traten an seine Stelle. Jonas Wade hatte mit großen Worten dafür plädiert, daß man Mary Ann McFarlands Kind als normales kleines menschliches Wesen annehmen solle; und in diesem Moment hatte er selbst seine eigene Tochter als seelenloses Geschöpf gesehen und verabscheut.

Heuchler, dachte er.

»Daddy?«

Er kniff die Augen zusammen und bemühte sich, ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu geben. Viel zu oft geschah es in letzter Zeit, daß die innere Beschäftigung mit Mary Ann McFarland ihn von seinen täglichen Pflichten, die er der Familie und seiner Arbeit gegenüber hatte, ablenkte. Penny hatte mehrmals Bemerkungen darüber gemacht; jetzt merkte auch Cortney die Zerstreutheit ihres Vaters.

Schuldgefühle schienen ihm zur zweiten Natur geworden zu sein: Schuldgefühle wegen des Artikels, wegen der Versuchung, über den eigenen Interessen das Wohl Marys aus den

Augen zu lassen, wegen der Vernachlässigung seiner Familie. Doch sie hinderten ihn nicht daran, zielstrebig seinen Weg zu gehen: Der Artikel war fast fertig; später, nach der Geburt des Kindes, wenn er die zusätzlichen Beweise hatte, würde er den Bericht dem Journal of the American Medical Association vorlegen.

»Cortney, deine Mutter und ich wollen doch nur dein Bestes. Wir glauben, daß deine Leistungen in der Schule leiden würden, wenn du ausziehst.«

Mit einem gereizten Seufzer warf sie den Kopf in den Nacken - auch eine von Pennys typischen Bewegungen. »Daddy, man lernt doch nicht nur aus Büchern. Es gibt auch noch was anderes im Leben. Ich möchte das Leben kennenlernen, wie es wirklich ist. Ihr schützt und behütet mich hier, aber ich will nicht behütet werden. Ihr müßt mich gehen lassen.«

Jonas wollte jetzt keinen Kampf; nicht jetzt, wo er soviel anderes im Kopf hatte. Er wußte zu gut, wohin Widerstand führen würde; zu dem, was stets dabei herauskam, wenn er seinen Willen gegen Pennys eiserne Entschlossenheit setzte: zum toten Punkt. Cortney würde mürrisch und mißmutig durchs Haus schleichen und irgendwann doch ausziehen ...

Jonas neigte sich zu ihr hinüber und tätschelte ihre Hand. »Also gut, Cortney, versuchen wir's. Wenn es nicht klappen sollte, kannst du ja jederzeit hierher zurückkommen.«

»Danke, Daddy!« Sie sprang auf und umarmte ihn. Dann rannte sie ins Haus und rief ihre Mutter, während Jonas auf der Terrasse sitzenblieb und auf das Schwimmbecken starrte, dessen blaues Wasser sich im Wind kräuselte.

Lionel Crispin stand am Fenster und sah zu, wie der wilde Oktoberwind durch die Straße fegte, die Blätter von den

Bäumen riß, Papiere den Bürgersteig entlangtrieb, Mülleimer umstürzte. Der Herbst kam dieses Jahr ungewöhnlich früh. Im allgemeinen war der Herbst in Südkalifornien mild und warm; diese unzeitgemäße Kälte, diese Rauheit der Witterung ließen Pater Crispin ahnen, daß ein schwerer Winter bevorstand.

»Lionel«, sagte der Mann in seinem Rücken mit leiser Mahnung. Pater Crispin wandte sich vom Fenster ab. »Verzeihen Sie, Exzellenz.«

Der Mann in dem brokatbezogenen Sessel sah den Pater forschend an. »Ist das alles? Ist das die ganze Geschichte?«

»Ja, Exzellenz.« Pater Crispin fing wieder an, im Zimmer hin und her zu laufen.

»Und Sie haben das Mädchen seither nicht mehr gesehen?«

»Nein, Exzellenz.«

»Haben Sie das Mädchen zu Hause aufgesucht oder sonst irgendwie versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen?«

Pater Crispin blieb mitten im eleganten Salon stehen und bemühte sich, seine Stimme zu beherrschen, als er sagte: »Ich konnte nicht. Ich konnte ihr nicht wieder gegenübertreten.«

»Warum nicht?«

»Weil sie mich besiegt hat.«

»Lionel«, sagte der Bischof ruhig. »Kommen Sie. Setzen Sie sich.«

Pater Crispin setzte sich dem Bischof gegenüber. Der Feuerschein aus dem großen offenen Kamin tauchte jeweils eine Hälfte der beiden Gesichter in rote Glut, während die andere im Schatten blieb. Die Profile waren scharf umrissen: Das von Lionel Crispin war rund und voll, mit schwammigen Wangen und einer fleischigen Nase; das des sechzigjährigen Bischofs Michael Maloney scharf und kantig, wie von einem Kubisten entworfen.

»Wir beide kennen uns seit langem, Lionel«, sagte der Bischof mit nasaler Stimme. »Ich erinnere mich an den Tag, als Sie in diese Diözese kamen. Ich war damals Gemeindegeistlicher. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, Lionel?«

»Exzellenz, ich habe dieses Mädchen im Stich gelassen. Ich habe versagt. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes vor meiner Pflicht als ihr Seelsorger davongelaufen.«

Bischof Maloney legte die schmalen Hände giebelförmig aneinander und schob sie unter sein Kinn. »Gut, sprechen wir darüber. Warum haben Sie dem Mädchen die Kommunion gegeben, wenn Sie der Meinung waren, sie verdiente es nicht?«

»Weil mir die Situation so peinlich war«, antwortete Pater Crispin kleinlaut.

»Wie meinen Sie das?«

Lionel mied den Blick seines alten Freundes und starrte in die tanzenden Flammen. »Ich hatte das Gefühl, daß die ganze Gemeinde mich beobachtete.«

»Und war es so?«

»Ich weiß es nicht, aber ich hatte das Gefühl. Alle starrten mich an, sogar meine Ministranten. Ich fühlte mich völlig hilflos«, Lionel Crispin befeuchtete die spröden Lippen, »als ich mich umdrehte und sie immer noch dort knien sah. Und ich sah ihr an, daß sie nicht wanken und nicht weichen würde, auch wenn die anderen längst wieder an ihre Plätze gegangen waren und ich mit dem Postcommunio beginnen würde. Ich wußte, sie würde hartnäckig knien bleiben. Ich habe ihr die Hostie gegeben -« er drehte den Kopf und sah den Bischof an - »ich habe sie ihr gegeben, um sie loszuwerden, Exzellenz.«