Pater Crispin hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Seine Stimmung war gedrückt. Wie sollte er mit Mary Ann McFarland umgehen? Ihre Eltern waren absolut überzeugt von diesem wissenschaftlichen Blödsinn. Und wie leicht sie zu überzeugen gewesen waren; wie schnell bereit, sich beschwichtigen und beruhigen zu lassen. Warum glaubten sie Wade und nicht Crispin? Warum waren sie so eifrig darauf bedacht, das Mädchen freizusprechen?

Pater Crispin nahm die Albe und zog sie sich über den Kopf.

Entweder das Mädchen log, oder es war geistig nicht gesund. Doch wie sollte man das herausfinden! Geistige Verwirrung konnte toleriert werden, aber bewußte Unterschlagung einer Todsünde nicht. Um Marys Seele willen mußte Pater Crispin die Wahrheit herausfinden.

Mary hob den Kopf und sah sich in der Kirche um. Sie war so voll, daß die Leute stehen mußten. Die meisten hatten sich schon ins Gebet versenkt.

Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die ganze Gemeinde auf. Er wandte sich ihnen zu und segnete sie. Alle bekreuzigten sich.

Während des ganzen Gottesdienstes versuchte Mary, sich auf das Wunder der Messe zu konzentrieren. Sie hatte früher nie darüber nachgedacht, sich nie klargemacht, daß in dieser einen Stunde Jesus Christus inmitten der Gläubigen noch einmal den ganzen Zyklus seines Lebens und Sterbens von der Fleischwerdung bis zur Himmelfahrt durchlief.

Pater Crispin hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Immer wieder mußte er sich bewußt daran erinnern, was er tat, daß er in seinen Händen den Leib und das Blut Jesu Christi hielt. Seine Stimme hatte eine ungewöhnliche Schärfe.

»Kyrie eleison.«

Er wußte, daß seine Zerstreutheit an diesem Morgen nicht allein auf Mary Ann McFarland zurückzuführen war. Es waren die quälenden Erinnerungen, die aus den Tiefen seines Geistes aufgestiegen waren, ihm den Schlaf geraubt und ihn die ganze Nacht lang mit Bildern und Visionen aus längst vergangenen Tagen gepeinigt hatten. Im Morgengrauen war er erschöpft und voller Bitterkeit auf gestanden. Und jetzt, während er das Introitus beinahe herausschrie, um so an der Realität der Messe festzuhalten, überfiel ihn immer wieder der Gedanke, daß die große Gemeinde hinter ihm, diese Menge satter und selbstgerechter Bürger, der Grund dafür war, daß er seinen Idealismus verloren hatte.

»Credo in unum deum patrem omnipotentem, factorem ...«

Viele Jahre, viel zuviel Zeit, hatte er damit zugebracht, die Reichen zu verhätscheln, Bingo-Abende und Wohltätigkeitsbasare zu organisieren, Hans Dampf in allen Gassen zu sein.

Er wandte sich ihnen zu. »Dominus vobiscum.« Weiße Wohlstandsbürger, nicht einer unter ihnen, der einer ethnischen Minderheit angehörte. »Sanctus, sanctus, sanctus .«

Mary paßte nicht mehr auf. Ihr Blick war auf den nackten, geschundenen Leib des heiligen Sebastian gerichtet.

»Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.«

Die Glocken begannen zu läuten, und Mary schlug sich an die Brust.

»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa .«

Es war Zeit für die Kommunion. Schweigend standen die Leute auf und bewegten sich in einem langen Zug durch den Mittelgang zum Altar. Mary schloß sich ihnen an. Sie kniete an der Kommunionbank vor den Chorschranken nieder, bekreuzigte sich und begann zu beten. Unter ihren gesenkten Lidern hervor sah sie Pater Crispin, der langsam die Reihe abschritt und in jede ausgestreckte Hand eine Hostie legte.

Als er sich in Begleitung eines Ministranten, der die goldene Patene trug, ihr näherte, neigte Mary den Kopf. Sie spürte einen leichten Luftzug, als der Pater vor der Person neben ihr stehenblieb, und hörte sein Flüstern, als er die Formel sprach. Dann spürte sie, wie die Person neben ihr aufstand.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie wahrnahm, daß Pater Crispin vor ihr anhielt. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und sie hatte das heftige Verlangen zu schlucken, aber sie tat es nicht. Sie hielt den Kopf geneigt, die Augen geschlossen.

Pater Crispin ging, ohne ihr die Hostie gegeben zu haben, weiter zu ihrem Nachbarn.

Zornig und beschämt blieb Mary, den Kopf nach vorn geneigt, knien, und krampfte ihre Hände so fest ineinander, daß sie schmerzten. Nein! sagte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen. Nein, du läufst jetzt nicht davon.

Als Pater Crispin das Ende der Reihe erreicht hatte, drehte er sich um, um von neuem zu beginnen. Unwillig blickte er auf das Mädchen, das eigensinnig an der Schranke knien blieb. Der Ministrant, der sich seine Verwunderung und Neugier nicht anmerken lassen wollte, hielt den Blick starr auf den

Hostienteller gerichtet und stolperte prompt über sein langes Gewand. Er fiel taumelnd gegen den Priester und murmelte verlegen: »Entschuldigen Sie, Pater.«

Sie spürte wieder den Luftzug, als er an ihr vorüberging und weiter die Reihe entlangschritt bis zum anderen Ende. Aber sie blieb knien. Sie hielt die Chorschranke umklammert, als säße sie in der Achterbahn, und schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter.

Wieder kam Pater Crispin die Reihe entlang, gab jedem Gemeindemitglied die Hostie und seinen Segen. Seine Finger, die den Stil des Ziboriums hielten, waren blutleer. Seine Lippen waren schmal zusammengepreßt; seine Stimme schwoll ein wenig an, so daß sie beinahe über das Füßescharren hinweg zu hören war.

Wieder senkte Mary den Kopf, und sie streckte beide Hände aus, die Ellbogen eng an ihren Körper gedrückt.

Bei einem Blinzeln sah sie das Weiß von Pater Crispins Albe. Er war vor ihr stehengeblieben. Lieber Gott, hilf mir, flehte sie im stillen. Hilf mir, Gott ...

Dann die Berührung, das leichte Kitzeln, die Hostie lag in ihren Händen.

Mary warf sich nach vorn, neigte sich tief über die Schranke und schluchzte vor Glück und Erleichterung. Die tiefen Töne der Orgel umbrausten sie. Der Chor sang, und die letzten Gemeindemitglieder standen von der Kommunionbank auf und gingen davon.

16

»In zwei Wochen werde ich Mary röntgen, Mr. McFarland, und es wäre mir lieb, wenn Sie und Ihre Frau mitkämen. Ich wollte Ihnen rechtzeitig vorher Bescheid geben, damit Sie sich den Termin freihalten können.«

»Das ist sehr freundlich, Dr. Wade. An welchen Tag hatten Sie gedacht?«

Jonas griff nach dem Kalender auf seinem Schreibtisch. »Jeder Tag in der Woche nach dem einundzwanzigsten wäre mir recht. Besprechen Sie es mit Ihrer Frau, Mr. McFarland, und rufen Sie meine Sprechstundenhilfe an. Sie vereinbart dann einen Termin mit der Röntgenabteilung.«

Es blieb einen Moment still. Ted McFarland machte sich wohl eine Notiz. Dann sagte er: »Dr. Wade, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Mißbildung bei dem Kind?« Er schien den Stier gleich bei den Hörnern packen zu wollen.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich möchte, daß Sie und Ihre Frau dabei sind, wenn wir die Aufnahmen bekommen, für den Fall, daß das Kind geschädigt sein sollte. Dann braucht Mary Ihre Unterstützung.«

Teds Stimme klang seltsam dünn und doch zugleich kraftvoll. »Wenn es eine Mißbildung ist, was schlagen Sie dann vor?«

Jonas schloß einen Moment die Augen. »Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen, Mr. McFarland. Es hängt von vielen Dingen ab. Wenn das Kind schwere Mißbildungen aufweist, werden Sie die Angelegenheit mit Ihrem Priester

besprechen wollen, denke ich.«

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Ted: »Sie denken an eine Abtreibung, nicht wahr?«

»Wenn Marys Leben bedroht ist, ja.«

»Aber sie ist im sechsten Monat. Ist es nicht jetzt schon ein -richtiges Kind?«

»Doch.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Dr. Wade. Meine Frau und ich werden kommen. Besten Dank, daß Sie angerufen haben.«

Nachdem Jonas Wade aufgelegt hatte, blieb er untätig an seinem Schreibtisch sitzen und starrte auf die rote Mappe, die den ersten Entwurf seines Berichts enthielt. Nur das letzte Kapitel fehlte jetzt noch. Er hatte flüchtig erwogen, sich in dieser Angelegenheit an Ted McFarland zu wenden - er und seine Frau, beide mußten die Genehmigung geben -, hatte es sich aber in letzter Minute anders überlegt. Der arme Mann hatte im Augenblick genug um die Ohren. Die Genehmigung zur Veröffentlichung konnte warten. Wenn die Röntgenaufnahmen ein völlig mißgebildetes Kind zeigten, würde der Artikel sowieso nicht fertiggeschrieben werden. Wenn sie jedoch ein normal entwickeltes Kind zeigen sollten, würde Jonas schon einen geeigneten Zeitpunkt finden, um sich mit den McFarlands über eine Veröffentlichung seines Berichts zu unterhalten und zu einigen.

Jonas massierte sich leicht das Gesicht, während seine Gedanken sich dem nächsten Problem zuwandten - der vorgesehenen Freigabe des Kindes zur Adoption. Er mußte einen Weg finden, um den McFarlands reinen Gewissens raten zu können, das Kind zu behalten. Aber genau das war der Haken: das reine Gewissen. Jonas war sich völlig klar, daß er in dieser

Frage vor allem sein eigenes Interesse im Auge hatte. Wenn sowohl Mary als auch ihre Eltern es für besser hielten, das Kind wegzugeben, und wenn Pater Crispin sie darin unterstützte, dann war das zweifellos für die Beteiligten die beste Lösung, und Jonas Wade konnte sich nicht anmaßen, ihnen zu etwas anderem zu raten. Doch wenn das Kind weggegeben wurde, konnte er seinen Artikel nicht beenden. Er hatte ein stabiles Fundament gelegt, um seine Theorie zu untermauern, aber ohne die nach der Geburt fälligen Beweise zur weiteren Untermauerung seiner Behauptungen konnte er seinen ganzen Plan fallenlassen.

Jonas stand vom Schreibtisch auf und sah sich in seinem Arbeitszimmer um. Unbeantwortete Korrespondenz und ungelesene Fachzeitschriften lagen verstreut auf dem Ledersofa; neue Bücher, die er noch nicht einmal ausgepackt hatte. Er hatte in den letzten Monaten kaum etwas anderes im Kopf gehabt als seine Arbeit an dem >Fall< McFarland.