Es kam genauso, wie Mike es vorausgesehen hatte. Kaum trat Mary ins Zimmer, da verliebte er sich noch einmal ganz von neuem in sie. Sie war so verändert. Das Umstandskleid betonte eher ihre neue Fülle, anstatt sie zu verbergen; ihr Gesicht war runder und weicher unter dem langen, glänzenden Haar, und ihre Augen waren wie Fenster, in die ein blauer Himmel hineinschaute. Mike schnürte es die Kehle zu. Er hätte Mary gern die Hand gegeben, aber seine Hände waren schweißnaß.

»Hallo«, sagte sie lächelnd in die Runde und setzte sich.

Jonas Wade vergeudete keine Zeit. Sobald Mary im Kreis der anderen Platz genommen hatte, öffnete er seine Aktentasche, entnahm ihr mehrere leere Blätter und hielt eine kurze Unterrichtsstunde über die Fortpflanzung beim Menschen.

Auf das Papier zeichnete er einen Kreis, der einen kleinen Kreis und einige Wellenlinien enthielt. »Das ist eine menschliche Eizelle. Diese Wellenlinien hier stellen die Chromosomen dar, insgesamt sechsundvierzig. Wenn das Ei beim Eisprung den Eierstock verläßt, beginnt die Reifung. Die Eizelle teilt sich, die Chromosomen werden auseinandergezogen, so daß wir nun zwei Sätze von je dreiundzwanzig haben, und diese Hälfte der Eizelle -« er zeichnete ein Oval und setzte ein X in die obere Hälfte -, »die man als zweites Polkörperchen bezeichnet, wird ausgestoßen. Das reifende Ei hat nun nur noch dreiundzwanzig

Chromosomen und ist bereit, die anderen dreiundzwanzig aufzunehmen, die im Spermium enthalten sind. Wenn in diesem Stadium Geschlechtsverkehr stattfindet, dringt der Samenfaden in die Eizelle ein und bildet den männlichen Zellkern, der mit dem weiblichen, in dem die anderen dreiundzwanzig Chromosomen enthalten sind, verschmilzt. Es entsteht die Ursprungszelle des neuen Lebewesens. Durch die nun einsetzende Furchung, das heißt Teilung der Zelle, entsteht der Embryo.«

Er hielt inne und sah sich in der Runde um.

»Warum erzählen Sie uns das, Dr. Wade?« fragte Lucille.

»Zur Vorbereitung auf das, wozu ich jetzt kommen werde. Ich möchte sicher sein, daß wir alle eine gemeinsame Grundlage haben und daß es bei niemandem Zweifel gibt.« Jonas sah Ted an, der nickte. Sein Blick glitt weiter zu Nathan und Mike Holland, zu Mary und schließlich zu Pater Crispin, der aus seinem Mißvergnügen kein Hehl machte.

»Ich möchte Ihnen allen ganz klarmachen«, fuhr Jonas fort, »wie es zu Marys Schwangerschaft gekommen ist.«

»Dr. Wade!« unterbrach Pater Crispin. »Sie werden doch nicht an dieser absurden Theorie festhalten wollen!«

»Sie ist keineswegs absurd, Pater, das werden Sie bald selbst sehen.«

»Was denn?« fragte Lucille. »Wovon spricht er?«

»Ich spreche von Parthenogenese, Mrs. McFarland.«

Nachdem Jonas seinen Zuhörern den Ausdruck erläutert hatte, berichtete er in klaren, verständlichen Worten von seinen Recherchen, seinen Gesprächen mit Bernie Schwartz und Dorothy Henderson, gab einen Überblick über die wissenschaftlichen Daten, die er gesammelt hatte, und beendete seinen Vortrag mit der erstaunlichen Schlußfolgerung, zu der

er aufgrund seiner Untersuchungen gelangt war.

Danach war es zunächst völlig still. Nathan Holland lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch das ungebärdige weiße Haar. Sein Blick glitt langsam über die Berichte und Statistiken, die auf dem Couchtisch ausgebreitet lagen, wanderte zu den Zeitungsartikeln und blieb schließlich auf der Skizze ruhen, die die Teilung der menschlichen Eizelle darstellte. Er glaubte jedes Wort von dem, was Jonas Wade gesagt hatte.

Lucille McFarland starrte wie betäubt auf dieselben Unterlagen und dachte: Unmöglich!

»Noch unerhörter als Ihre hanebüchene Theorie«, erklärte Pater Crispin mit Kanzelstimme, »finde ich, daß Sie von uns erwarten, sie zu glauben.«

Ehe Jonas etwas erwidern konnte, sagte Ted: »Ich weiß nicht, Pater. Ich finde es ziemlich überzeugend -«

»Sie erstaunen mich, Mr. McFarland.« Pater Crispin stand ächzend aus seinem Sessel auf und ging ein paarmal im Zimmer hin und her, um sich Bewegung zu verschaffen.

Jonas beobachtete ihn mit einer Mischung aus Ungeduld und Bedauern. Du bist doch nur dagegen, dachte er, weil du meine Theorie als Angriff auf deinen Glauben siehst.

»Dr. Wade«, sagte Ted, »ist das wirklich möglich?«

»Sehen Sie sich den Fall der Dionne-Fünflinge in Kanada an, Mr. McFarland. Wissen Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer eineiigen Fünflingsgeburt ist? Eins zu fünfzig Millionen. Und in diesem Fall ist es geschehen. Aus einer einzigen Eizelle entwickelten sich fünf kleine Jungen. Und die ganze Welt akzeptiert es. Die Geburt der Dionne-Fünflinge könnte man als ein wissenschaftliches Wunder bezeichnen; kein Mensch glaubte, daß es so etwas geben könne. Aber als es dann soweit war, hat niemand die Tatsache in Zweifel gezogen oder angefochten. Die Fünflinge werden als das akzeptiert, was sie sind. Die Wahrscheinlichkeit einer parthenogene-tischen Geburt liegt weit höher, Mr. McFarland. Wenn Sie die Dionne-Fünflinge akzeptieren können, warum dann nicht Marys Unberührtheit?«

Ted nickte bedächtig. »Würden Sie mir noch einmal erklären, Dr. Wade, warum Sie glauben, daß das Kind ein Mädchen werden wird?«

»Ich werde es Ihnen zeigen.«

»Unglaublich«, murmelte Ted wenig später, während er kopfschüttelnd auf die Skizze sah, die Jonas Wade angefertigt hatte. Lucille beugte sich vor und betrachtete die Illustration, ohne ein Wort zu sagen.

Jonas überließ ihnen das Papier und lehnte sich im Sofa zurück. »Das Geschlecht des Kindes wird durch die Chromosomen im Spermium bestimmt. Enthält es ein Y-Chromosom, so wird das Kind ein Junge. In diesem Fall fand die Befruchtung nicht durch ein Spermium statt. Im Ei sind also nur die weiblichen X-Chromosomen enthalten. Darum muß das Kind weiblich werden.«

Er schaute zu Mary hinüber. Er hätte gern gewußt, was in ihr vorging, doch ihr Gesicht war unergründlich.

Er irrt sich, dachte sie.

»Dr. Wade«, sagte Lucille stockend, »Sie glauben, daß es durch den Stromschlag damals im Schwimmbecken zu der Schwangerschaft gekommen ist?«

»Ja.«

»Aber -« ihre Augen zeigten tiefe Verwirrung, und in diesem Moment sah Lucille jünger und kindlicher aus als ihre Tochter - »kann das Kind denn dann eine Seele haben?«

Hier fühlte sich Jonas Wade auf unsicherem Boden. Über wissenschaftliche Fakten und Analysen konnte er mit Sicherheit und Überzeugung sprechen, diese Frage jedoch brachte ihn aus dem Konzept. Automatisch sah er den Priester an.

Und Pater Crispin, der den hilfesuchenden Blick auffing, versicherte rasch: »Selbstverständlich hat es eine Seele, Mrs. McFarland.«

»Aber - es wurde doch nicht auf normalem Weg gezeugt.«

»Dennoch ist es ein Leben, und alles Leben kommt von Gott. Er wählte seine Werkzeuge und seine Wege aus Gründen, die uns unerforschlich sind -« Pater Crispin brach plötzlich ab und räusperte sich. »Das heißt aber noch lange nicht, daß ich diesen Unsinn glaube«, fügte er hastig hinzu. »Doch selbst wenn es wahr wäre, Mrs. McFarland, wäre dieses Kind ein Kind Gottes.«

Die Unterstützung, die Jonas Wade sich von Pater Crispin erhofft hatte, war ausgeblieben. Er setzte seine nächsten Worte vorsichtig. »Das Kind wird ganz normal werden, Mrs. McFarland. Es gibt keinen Grund, warum es nicht so sein sollte. In einigen Wochen werde ich Röntgenaufnahmen machen können, und dann können wir den Fötus sehen.«

Jonas blickte wieder zu Mary, die immer noch so unbewegt dasaß, als ginge sie das alles nichts an.

»Es besteht jedoch eine, wenn auch äußerst geringe Gefahr, daß Probleme auftreten können. Deshalb würde ich vorsichtshalber -«

»Probleme?« fragte Lucille. »Was für Probleme?«

»Ich will damit nur sagen, daß wir es hier mit einem Sonderfall zu tun haben, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Darum hätte ich gern Ihre Erlaubnis, vorsichtshalber eine bestimmte Untersuchung bei Ihrer Tochter vorzunehmen.«

»Was ist das für eine Untersuchung?« fragte Ted.

»Es handelt sich um eine Fruchtwasseruntersuchung. Dabei wird eine Probe des Fruchtwassers entnommen und mikroskopisch untersucht. Man macht diese Untersuchung vor allem bei Müttern mit einem negativen Rhesusfaktor, um festzustellen, ob das Kind durch die Antikörper der Mutter gefährdet ist. Wir können uns auf diese Weise die Chromosomenstruktur des Kindes ansehen, um uns zu vergewissern, daß seine Entwicklung einen normalen Verlauf nimmt.«

»Wie zuverlässig ist die Untersuchung?«

»Sie befindet sich augenblicklich noch im experimentellen Stadium, aber -«

Lucille schüttelte den Kopf. »Keine Experimente mit meiner Tochter. Sie hat genug durchgemacht.«

»Mrs. McFarland, die Fruchtwasseruntersuchung wird jedes Jahr bei Hunderten von Frauen durchgeführt -«

»Ist sie mit Gefahren verbunden?«

»Ach, Gefahren gibt es bei jeder -«

»Nein, Dr. Wade, eine solche Untersuchung erlaube ich nicht.«

Jonas Wade kämpfte. »Es ist zum Besten Ihrer Tochter, Mrs. McFarland, und zum Wohl des Kindes.«

Sie hielt die kalten blauen Augen auf ihn gerichtet. »Und wenn sich herausstellen sollte, daß das Kind geschädigt ist?«

Er starrte sie an.

»Dr. Wade«, schaltete sich Ted ein, »ich glaube, meine Frau will damit sagen, daß man in einem solchen Fall doch sowieso nichts unternehmen könnte. Warum dann also eine gefährliche Untersuchung? Ich meine, wenn sich herausstellen sollte, daß das Kind geschädigt ist, würde sich doch an ihrer Behandlung Marys nichts ändern, nicht wahr?«

Jonas ließ sich die Frage durch den Kopf gehen, nahm den abwehrenden Blick Lucilles zur Kenntnis und sagte: »Nein.«

»Dr. Wade -«

Alle Augen richteten sich auf Mike. Alle waren erstaunt, daß er sich in das Gespräch einmischte. Sein Gesicht war bedrückt.