Er wußte nicht genau, warum es bei dieser Zusammenkunft gehen sollte. Dr. Wade hatte ihm lediglich gesagt, es beträfe auch Mike, und hatte ihn gebeten, seinen Sohn zu begleiten. Mike saß still und stumm auf dem Sitz neben ihm, aber Nathan konnte sich ungefähr vorstellen, was in ihm vorging. Er hoffte, das Treffen würde dazu beitragen, die bedrückende Atmosphäre zu lockern, unter der die ganze Familie seit dem Tag litt, an dem Ted McFarland ihm und Mike von Marys Schwangerschaft Mitteilung gemacht hatte. Sie hatten alle gelitten, nicht nur Mike, dessen Noten stark abgerutscht waren und der sich, sehr im Gegensatz zu seinen sonstigen Feriengewohnheiten, fast den ganzen Tag in seinem Zimmer verkroch. Timothy, für den der große Bruder immer das bewunderte Vorbild gewesen war, behandelte Mike jetzt beinahe mit Verachtung. Sein Schmerz über die Demontierung seines Ideals war deutlich spürbar. Matthew andererseits schien von der ganzen Sache völlig unberührt, als mache ihm das alles
nichts aus. Gerade das aber beunruhigte Nathan sehr.
Er konnte nur hoffen, daß diese heutige Zusammenkunft zu einer Reinigung der Atmosphäre führen würde, ganz gewiß sollte sie einer Klärung dienen. Da Mike immer noch als Vater von Marys Kind in Frage kam, wollten die McFarlands und Dr. Wade vermutlich über eine Heirat sprechen. Obwohl Nathan sich in den vergangenen drei Monaten immer wieder mit dieser Möglichkeit auseinandergesetzt hatte, wußte er, daß es ihm schwerfallen würde, eine Heirat zu akzeptieren. Er war froh, daß Pater Crispin anwesend sein würde, um ihnen allen mit seinem Rat beizustehen.
Mike, der ahnte, was seinem Vater durch den Kopf ging, sah dem bevorstehenden Zusammentreffen mit Beklemmung und auch Angst entgegen. Zum erstenmal seit langem würde er Mary wiedersehen. Nicht vor ihr jedoch hatte er Angst, sondern vor sich selbst. Er fürchtete sich davor, daß er zusammenbrechen und seine Schwäche offenbar würde. Von ihr getrennt, fern von ihr, konnte er den Schmerz ertragen, den sie ihm bereitet hatte; aber in ihrer Nähe, wenn er sie sehen und ihre Stimme hören konnte, würden, so fürchtete er, alle Abwehrmauern einstürzen.
Der Anblick von Pater Crispins Wagen machte Mike im Gegensatz zu seinem Vater keinen Mut. Er hatte bereits mehrere ernste Auseinandersetzungen mit dem Priester hinter sich. Pater Crispin hatte ihn gedrängt, seine Sünde einzugestehen, und hatte ihn beschworen, Marys Ehre zu schützen und dem Kind seinen Namen zu geben. Mikes Beteuerung, daß er mit Marys Schwangerschaft nichts zu tun hatte, hatte er nicht geglaubt.
»Komm, mein Junge, gehen wir hinein«, sagte Nathan leise.
Lucille öffnete ihnen und begrüßte sie lächelnd. Sie war froh, daß die beiden endlich eingetroffen waren. Nun konnte die Unterredung anfangen; nun würde sie gezwungen sein, dem Problem ins Auge zu sehen. Vielleicht würde sich jetzt wieder ein Zugang zu Mary finden. Mutter und Tochter waren einander fremd geworden in diesen Wochen, und Lucille hatte den Verdacht, daß Mary ihr allein die Schuld an ihrem Selbstmordversuch gab. Sie wußte nicht, was der Grund dafür war, und hatte mehrmals versucht, sich Mary zu nähern, um eine Klärung herbeizuführen. Sie wußte, daß sie miteinander sprechen und einander offen sagen mußten, was sie bewegte, aber Mary war auf ihre Bemühungen nicht eingegangen. Sie hatte sich völlig verändert, und Lucille war jetzt unsicher, wie sie ihr begegnen sollte.
Rein äußerlich hatte sich durch Marys Schwangerschaft kaum etwas verändert; das Leben ging scheinbar weiter wie zuvor. Doch Lucille fühlte unterschwellige Strömungen, und die bereiteten ihr Angst und Unbehagen.
Sie führte Nathan und Mike ins Wohnzimmer, Pater Crispin stand auf und reichte Nathan die Hand. Als er sich Mike zuwandte, verfinsterte sich seine Miene wie im Reflex, als sich ihm die Erinnerung an den vergangenen Nachmittag aufdrängte.
Er war in der leeren Kirche zufällig auf Mary gestoßen, die vor dem Gemälde des heiligen Sebastian kniete und betete. Er hatte sie gebeten, mit ihm in sein Büro zu kommen, und bekam nun aus ihrem Mund von dem Wahn zu hören, dem sie völlig verfallen zu sein schien. Anfangs hatte er mit Geduld versucht, sie zur Vernunft zu bringen, doch im Lauf des Gesprächs war er immer gereizter geworden, und schließlich hatte ihn der Zorn gepackt.
»Mary Ann McFarland, du versündigst dich«, sagte er scharf. »Was du da behauptest, ist Blasphemie. Du hattest einen Traum, und das ist alles.«
»Es war eine Heimsuchung«, widersprach sie. »Ich weiß es genau, Pater. Ich habe es gefühlt. Ich habe gefühlt, wie der heilige Sebastian seinen Samen in mich einpflanzte. Und Träume fühlt man doch nicht, oder, Pater?«
»Es war eben ein realistischer Traum, Kind.«
»Jetzt weiß ich, warum sie nichts von Gabriel verraten hat.«
»Sie?«
»Die Heilige Jungfrau. Sie wußte, daß man ihr nicht glauben würde. Darum hat sie die Heimsuchung verschwiegen. Das hätte ich auch tun sollen.«
»Das ist eine Anmaßung, Mary, dich mit der Mutter Gottes zu vergleichen. Das lasse ich nicht zu. Genug jetzt mit diesem Unsinn. Deine Eltern und Dr. Wade waren viel zu nachsichtig mit dir, aber ich bin nicht bereit, dieses Theater zu dulden. Ich bin für dein Seelenheil verantwortlich. Du bist eine Katholikin, Mary; du gehörst zur Gruppe derer, denen das Himmelreich und die Liebe Gottes verheißen ist, wenn sie nur seine Gesetze befolgen. Du hast das Privileg, zu beichten und Buße zu tun. So etwas nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Um deiner Seele willen, beichte endlich, Mary.«
Aber seine Vorhaltungen hatten nichts gefruchtet. Und als er sie aufgefordert hatte, sich im Interesse ihres ungeborenen Kindes wieder in ärztliche Behandlung zu begeben, hatte sie mit einer Gelassenheit, die ihn fuchsteufelswild machte, erwidert: »Gott wird schon für das Kind sorgen.«
»Gott hat uns Ärzte gegeben, Mary, damit sie hier auf Erden seine Arbeit tun können. Es ist Gottes Wille, daß du weiterhin regelmäßig zu Dr. Wade gehst. Du darfst die Gesundheit deines Kindes nicht vernachlässigen.«
Am Ende des fruchtlosen Gesprächs war Pater Crispin der Verzweiflung nahe gewesen. »Mary«, hatte er beinahe gefleht, »lege jetzt die Beichte ab. Vertrau dich Gott und der Kirche an. Sie werden deinen Schmerz lindern.«
Aber sie war unerschütterlich geblieben, und wenn er, ihr Beichtvater, sie nicht zur Vernunft bringen konnte, was hoffte dann Dr. Wade heute hier zu erreichen?
Darüber war sich Jonas selbst nicht sicher. Zwei Anliegen hatten ihn an diesem Tag hierher geführt: Er wollte Marys Unschuld feststellen und er wollte von ihren Eltern die Erlaubnis zu einer Fruchtwasseruntersuchung erwirken.
Bei der letzten Untersuchung - vor jenem Überraschungsbesuch, bei dem sie ihm mitgeteilt hatte, daß sie nicht wiederkommen würde - hatte Jonas den Eindruck gehabt, daß der Fötus sich normal entwickelte. Aber das reichte nicht. Erst am vergangenen Abend hatte er sich Eastmans Handbuch zur Geburtshilfe vorgenommen und das Kapitel über Anomalien in der Entwicklung durchgelesen. Dabei war er auf eine erschreckende Statistik gestoßen: Dreiviertel aller Mißgeburten, wie zum Beispiel anenzephalische Föten - also Föten, bei denen das Gehirn fehlte -, waren weiblichen Geschlechts. Die mögliche Schlußfolgerung aus dieser Tatsache hatte ihn tief entsetzt, daß zumindest einige dieser grauenvoll deformierten Geschöpfe vielleicht durch Jungfernzeugung entstanden waren.
Die Vorstellung, daß Mary ein solches mißgebildetes Geschöpf in sich tragen könnte, war ihm unerträglich. Und darum wollte er um jeden Preis eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen, auch wenn sie noch so viele Risiken mit sich brachte. Er würde darum kämpfen.
Mary stand in ihrem Zimmer und kämmte sich das Haar, als sie die Stimmen Nathan Hollands und Mikes hörte. Bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, durchzuckte es sie, aber sie wußte, daß sie völlig ruhig und beherrscht sein würde. Mike war wie Joseph. Bei Matthäus hieß es, daß Joseph Maria anfänglich hatte heimlich verlassen wollen; aber dann war ihm Gabriel erschienen und hatte ihm alles erklärt. Genauso würde es mit Mike geschehen. Dafür würde Gott Sorge tragen.
Sie hatte keine Ahnung, warum Dr. Wade um diese Zusammenkunft gebeten hatte. Aber es spielte auch keine Rolle. Wenn es ihren Eltern guttat, und die beiden schienen tief erleichtert, als sie hörten, daß er kommen würde, dann war das genug. Sie wußte, daß ihre Mutter und ihr Vater sich angesichts des Wunders durch den heiligen Sebastian unwohl fühlten; ihr sollte es nur recht sein, wenn Dr. Wade etwas zu ihrer Beruhigung tun konnte.
Auf der Kommode neben ihr lag ein Stapel Bücher aus der Bibliothek, die sie zurückgeben mußte. Das unterste, >Königin des Himmels<, hatte sie als erstes gelesen: eine umfangreiche Studie über die Jungfrau Maria. Obwohl das Buch mehr als tausend Seiten hatte, bot es wenig an konkreten Fakten oder neuem Material. In der Hauptsache war es eine Zusammenstellung mittelalterlicher Vorstellungen zum Marienkult. Mary hatte aus dem Buch nur zwei Dinge erfahren, die ihr neu waren: daß die Jungfrau selbst empfangen worden war, als ihre Mutter Anna von Joachim auf die Wange geküßt worden war; und daß Maria Jesus ohne Schmerzen und ohne Blutvergießen geboren hatte.
Die anderen Bücher behandelten ähnliche Themen außerhalb des christlichen Glaubens; klassische Mythologie. Ihnen hatte Mary andere Beispiele jungfräulicher Empfängnis entnommen - Leda, Semele, Io, sterbliche Frauen, die von Göttern heimgesucht worden waren und göttliche Kinder geboren hatten. Man glaubte auch, daß Plato, Pythagoras und Alexander der Große von jungfräulichen Müttern zur Welt gebracht worden seien. Es gab viele Beispiele in der Geschichte. Mary erfuhr, daß sie nicht allein war, und das gab ihr Kraft und Sicherheit.
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