O Gott, schrie sie in Gedanken. Sag mir doch, was mit mir geschieht. Sag mir, warum. Sag mir, wieso. Nur du allein kannst mir helfen. Dr. Wade weiß keine Antwort. Pater Crispin weiß keine Antwort. Nur du, Gott, du allein weißt, warum dies geschehen ist. Hilf mir, Gott ...
Mary schloß zitternd die Augen und bemühte sich, ihr Herz zu öffnen. Sie holte tief Atem, hielt lange die Luft an und stieß sie dann langsam aus.
Sie öffnete die Augen. Und plötzlich wurde sie gewahr, worauf ihr Blick gerichtet war.
Auf das Bild des heiligen Sebastian.
Sie vergaß ihre verzweifelten Gebete. Neugierig musterte sie das Gemälde: die Pfeile, die den kraftvollen Körper durchbohrten; die blutenden Wunden; die straffen Sehnen der nackten Schenkel; den geschundenen Leib. Am Ende blieb ihr Blick in Faszination an dem gequälten schönen Gesicht hängen, das trotz aller Qual einen Ausdruck der Verzückung trug.
Sie erinnerte sich.
Und im selben Moment kam ein wohltuender, tröstlicher Friede über sie.
13
Jonas Wade hatte Mühe, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Es war fast Mittag; jeden Moment würde Mary Ann McFarland kommen.
»Okay, Timmy, das wär's!« Er gab dem kleinen Jungen einen leichten Klaps auf die Schulter. »Du warst wirklich tapfer. Jetzt sind alle Fäden raus.«
Der Kleine strahlte, warf einen Blick auf die rote Narbe an seinem Knie und sagte: »Danke.«
Während die Sprechstundenhilfe dem Jungen vom Untersuchungstisch half, ging Jonas in sein Sprechzimmer und schloß die Tür hinter sich. Unruhig und beklommen setzte er sich an seinen Schreibtisch und starrte auf das Krankenblatt, das vor ihm lag. Er hatte beschlossen, Mary heute alles zu sagen.
Die Sprechanlage summte.
Jonas Wade saß über Timmys Krankenblatt gebeugt und schrieb, als Mary leise eintrat, die Tür hinter sich schloß und in einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz nahm. Er blickte kurz auf, um sie zu begrüßen. Die Hände im Schoß gefaltet, saß sie da und wartete geduldig.
Er schrieb weiter; er brauchte Zeit, um sich innerlich auf das Gespräch mit dem Mädchen vorzubereiten. Aber schließlich gab es nichts mehr zu schreiben, und er schlug den Hefter zu und steckte seinen Füller in die Brusttasche seines Kittels.
Mit einem gewinnenden Lächeln sah er Mary an. »Na, das ist aber eine nette Überraschung! Ich habe dich ja vier ewiglange Tage nicht gesehen.«
Sie lachte, und ihre blauen Augen blitzten. »Vielen Dank, daß Sie mir den Termin gegeben haben, Dr. Wade.«
»Wie bist du hergekommen? Ist deine Mutter mitgekommen?«
»Nein, sie hat mir ihr Auto geliehen.«
»Du hast den Führerschein?«
»Ja, seit einem halben Jahr. Meine Mutter gibt mir ihren Wagen ab und zu, wenn ich zum Einkaufen fahre oder in die Bibliothek und so. Und als ich heute sagte, ich müßte unbedingt zu Ihnen, hat sie sich erweichen lassen.«
»Und warum mußtest du denn nun unbedingt zu mir?«
Sie zögerte einen Moment. Ihr Gesicht verriet ihre Erregung. Dann sagte sie schnell und atemlos: »Dr. Wade, ich weiß jetzt, warum ich schwanger bin.«
»Was?« fragte er verblüfft.
»Ich weiß jetzt, warum, und ich weiß auch, wie es gesche-hen ist.«
Er rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Das klingt interessant, Mary. Willst du es mir erzählen?«
Sie schilderte kurz ihr Zusammentreffen mit Pater Crispin vor zwei Tagen und den nachfolgenden Besuch in der Kirche zum gemeinsamen Gebet. »Aber ich konnte nicht beten, Dr. Wade«, erklärte sie mit fliegenden Händen. »Ich hab in meinem Leben nie Mühe gehabt zu beten, aber da konnte ich einfach nicht. Ich habe die Worte runtergeleiert, aber sie hatten überhaupt keine Bedeutung. Sie waren völlig sinnlos, wie eine fremde Sprache.«
Sie rückte an die Stuhlkante. »Ich bekam Angst. Wirklich. Ich meine, das mußte doch was zu bedeuten haben. Wenn man plötzlich nicht mehr beten kann. Ich geriet völlig in Panik. Ich fing an zu zittern und hatte schreckliche Angst, Pater Crispin könnte was merken. Aber dann habe ich einfach aufgehört zu beten, Dr. Wade, und habe angefangen, mit Gott zu sprechen. Das hatte ich noch nie getan. Ich hab ihm einfach das Herz ausgeschüttet, und da ist es passiert.«
Jonas Wade beobachtete sie fasziniert. So lebhaft hatte er sie noch nie gesehen. »Was ist denn geschehen, Mary?«
»Ich erinnerte mich plötzlich an den Traum.«
Er horchte auf. »Du hattest einen Traum?«
»Ja, in der Nacht vor dem Ostersonntag. Der Traum war sehr merkwürdig, Dr. Wade, richtig bizarr. Ich hatte noch nie so was geträumt. Es war -« sie zuckte etwas verlegen die Achseln - »es war ein sexueller Traum. Vom heiligen Sebastian.« Mary sprach jetzt langsamer. »Im Traum kam der heilige Sebastian zu mir und liebte mich. Wie Mann und Frau sich lieben. Alles war so real, als wäre es wirklich geschehen.«
»Und an diesen Traum hast du dich in der Kirche erinnert?«
»Ja, während ich Gott bat, mir zu helfen. Ganz plötzlich war der Traum wieder da, als hätte Gott mir die Erinnerung gesandt.«
»Du glaubst, daß Gott deine Gebete erhörte und darum die Erinnerung an diesen Traum weckte?«
»Ja, aber es geht nicht nur um den Traum, Dr. Wade. Einen ganz normalen Traum, auch wenn er von Sex handelt, würde ich nicht für so bedeutungsvoll halten. Aber dieser Traum hatte was Besonderes. Es war etwas Körperliches, eine ganz starke Empfindung, wie ich sie noch nie vorher erlebt hatte. Und das war es, woran ich mich in der Kirche erinnerte, Dr. Wade.«
Er runzelte die Stirn. »Etwas Körperliches?«
»Ja. Es war ein ganz tolles Gefühl, und es war so stark, daß ich davon aufgewacht bin. Und gleich als ich wach war, wußte ich, daß irgendwas mit meinem Körper geschehen war. Ich -« Sie senkte die Stimme. »Ich hab mich angefaßt, und dabei hab ich gemerkt, daß was mit mir passiert war - unten.«
Er starrte sie einen Moment lang stumm an, dann sagte er: »Mary, weißt du nicht, was das war?«
»Doch. Es kam davon, daß der heilige Sebastian mich heimgesucht hatte.«
Jonas war völlig verdattert. »Davon, daß der heilige Sebastian dich heimgesucht hatte?«
»Aber ja. Ich hatte den Traum genau zur richtigen Zeit. In der zweiten Aprilwoche. Der Engel Gabriel hat doch auch die Mutter Maria heimgesucht. Da kann der heilige Sebastian bei mir das gleiche getan haben.«
Jonas Wade saß da wie vor den Kopf geschlagen. »Du lieber Gott«, sagte er leise.
»Sie haben mir selbst gesagt«, fuhr Mary fort, »daß die
Empfängnis irgendwann in den ersten zwei Aprilwochen stattgefunden hat, wahrscheinlich näher dem Ende der zweiten Woche.« Marys Gesicht war wie von innen erleuchtet, die blauen Augen blitzten lebendig.
Jonas war entsetzt. »Mary«, sagte er ernst, »glaubst du allen Ernstes, daß dieser Heilige zu dir gekommen ist, während du schliefst, und dich geschwängert hat?«
»Es war so, Dr. Wade. Gott hat es mir zu erkennen gegeben.«
»Mary«, sagte er wieder und beugte sich weit über den Schreibtisch, um das Mädchen eindringlich anzusehen. Er wünschte jetzt aus tiefstem Herzen, er hätte es nicht so lange hinausgeschoben, ihr von den Ergebnissen seiner Nachforschungen zu berichten. »Mary, das, was du am Ende des Traums gefühlt hast, war eine ganz normale physiologische Reaktion. Du hattest einen Orgasmus.«
Ihr Gesicht wurde brennend rot. »Frauen haben keinen Orgasmus.«
»Da täuschst du dich«, entgegnete er bestimmt. »Frauen können sehr wohl einen Orgasmus bekommen, und es ist nicht ungewöhnlich, daß man im Schlaf einen hat. Mary, du verwechselst eine normale körperliche Reaktion mit einem religiösen Erlebnis.«
Das Lächeln auf Marys Gesicht erlosch. Ihre Augen wurden plötzlich hart. »Dr. Wade, Gott hätte mir bestimmt nicht die Erinnerung an so was Schmutziges geschickt, wo ich ihn gerade um Hilfe anflehte. Ich weiß, was mein Traum zu bedeuten hatte. Was er wirklich war. Gott hat es mir gesagt.«
Jonas Wade starrte sie in hilfloser Verwirrung an. Diese unerwartete Wendung hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er wußte nicht, wie er dieser Wahnvorstellung begegnen sollte. Er hätte ihr viel früher die Wahrheit sagen sollen, dann hätte er diese gefährliche Entwicklung abwenden können. Mary hatte verzweifelt nach einer Erklärung für ihren Zustand gesucht; da er ihr nichts geboten hatte, stürzte sie sich nun auf diesen Irrsinn.
»Mary, du behauptest, an dir sei ein Wunder geschehen. Du vergleichst dich mit der Mutter Gottes.«
»Weil es wahr ist. Wenn es ihr geschehen konnte, warum dann nicht auch mir?« Marys Stimme war so ruhig und selbstsicher, daß Jonas Wade angst wurde. »Ihr hat damals auch keiner geglaubt. Aber als das Kind da war, haben es alle geglaubt. Warum soll man es bei mir nicht glauben können?«
»Hast du mit irgend jemandem über deine Vermutung gesprochen, Mary? Mit Pater Crispin vielleicht?«
»Nein, mit keinem, nicht mal mit meinen Eltern. Ich wollte erst mit Ihnen darüber sprechen, weil ich dachte, Sie würden es verstehen. Sie konnten die Antwort nicht finden, Dr. Wade; da habe ich Gott um Hilfe gebeten, und er hat mir die Antwort gegeben.«
»Du selbst hast dir die Antwort gegeben, Mary. Ich weiß genau, warum du schwanger bist. Ich habe geforscht. Das, was bei dir vorliegt, ist äußerst selten, aber es kann vorkommen -«
»Dr. Wade.« Ihr Stimme war metallisch, ihre Augen waren kühl. »Pater Crispin hat mir gesagt, ich hätte eine Todsünde auf dem Gewissen. Er sagte, ich hätte Gotteslästerung begangen, weil ich so zur heiligen Kommunion gegangen bin. Aber jetzt weiß ich, daß er sich geirrt hat. Ich bin rein, Dr. Wade. Gott sandte den heiligen Sebastian zu mir, und er pflanzte das Kind in mich hinein. Ich habe nicht gesündigt. Für mich ist jetzt alles klar.«
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