»Außerdem«, fuhr sie fort, während er den Arm um sie legte, »brauche ich gute Noten, wenn ich in der Begabtenklasse bleiben will.« Sie starrte auf den lautlos berichtenden Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm und fand, er hätte einen Stich ins Grüne. »Die Farbe stimmt nicht, Dad.«

»Ich weiß. Irgendwann demnächst werden sie's schon besser hinkriegen. Bis dahin müssen wir mit dem zufrieden sein, was sie uns bieten.«

»Und was gibt's Neues in der Welt?«

»Nicht viel. Die Schwarzen im Süden demonstrieren immer noch. Jackie ist immer noch guter Hoffnung. An der Börse ist immer noch Baisse. Alles unverändert. Moment mal, nein! Ich hab was vergessen. Sybil Burton hat Richard heute endlich verlassen.«

Mary lachte. »Ach, Dad.« Sie schlang ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen Kuß. Als sie aus dem Zimmer ging, hörte sie die plötzlich wiedereinsetzende Stimme des Nachrichtensprechers. »... gab heute bekannt, daß der Theologe Hans Küng sich dafür ausgesprochen hat, den Index verbotener Bücher abzuschaffen .«

Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte mit leerem Blick auf das Foto Richard Chamberlains, das an ihrer Pinnwand den beherrschenden Platz einnahm. Vor ihr lagen die Bilder ausgebreitet, die sie zur Illustration ihrer Facharbeit über die Kathedralen Frankreichs ausgeschnitten hatte. Aber sie hatte die Schreibmaschine bis jetzt nicht angerührt. Die Musik der Platte, die sie aufgelegt hatte, schwermütig gesungene Lieder von Joan Baez, drang nicht zu ihr durch. Sie war mit ihren Gedanken wieder bei dem Traum der vergangenen Nacht.

Halb wünschte sie, die aufwühlende Erinnerung abschütteln zu können, halb genoß sie sie auch mit einer heimlichen Wonne. Sie verstand nur nicht, warum ihr Unterbewußtsein nicht Mike, sondern ausgerechnet den heiligen Sebastian für die Rolle des Liebhabers auserkoren hatte.

Merkwürdig, fand sie jetzt, wo sie darüber nachdachte, daß sie in den sieben Monaten, seit Mike ihr Freund war, nicht ein einziges Mal von ihm geträumt hatte. Obwohl sie sehr viel über ihn phantasiert hatte. Bis zum Geschlechtsakt selbst allerdings waren diese Tagträume nie gegangen. Mary Ann McFarland erlaubte sich keine sündhaften Gedanken.

Seufzend stand sie auf und ging rastlos in ihrem Zimmer umher. Filmstars, Popsänger und ein nachdenklicher Präsident Kennedy blickten von den Wänden zu ihr hinunter. Auf der Kommode lagen neben ihrem Schul-Sweatshirt und mehreren Dosen Haarspray Fotos von Mike Holland im FootballDreß.

Mary streckte sich auf ihrem Bett aus. Die erotischen Erinnerungen an den heiligen Sebastian ließen sie nicht los; die Erinnerung nicht nur an den Traum, sondern vor allem daran, wie er geendet hatte. Zweifellos war der Traum Sünde gewesen; und zweifellos war es daher unrecht zu hoffen, daß er wiederkehren würde. Sie mußte ihn vergessen, ihn sich mit Gewalt aus dem Kopf schlagen. Den Blick auf die kleine blau-gewandete Figur der heiligen Jungfrau gerichtet, die mit sanfter Duldermiene auf ihrem Toilettentisch stand, begann Mary widerstrebend zu beten. »Heilige Maria, Mutter Gottes voller Gnaden .«

2


Mike Holland lebte mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern in einem großen Bungalow nicht weit vom Haus der McFarlands entfernt. Nathan Holland hatte seit dem Tod seiner Frau vor fast zehn Jahren seine drei Söhne allein großgezogen. Dank jahrelanger Übung schaffte er es mühelos und ohne Panne, wie gewohnt das Frühstück für die ganze Familie auf den Tisch zu bringen, ehe er ins Büro fuhr. Das Geschirr würde er heute stehenlassen, da freitags immer die Zugehfrau kam.

»Mike? Bist du das?« rief er, als er im Wohnzimmer Schritte und ein verschlafenes Gähnen hörte.

»Ja, Dad.«

»Komm, beeil dich ein bißchen. Deine Brüder lassen dir sonst nichts übrig.«

Mike ging ins Eßzimmer und setzte sich an seinen angestammten Platz. Timothy, vierzehn, und Matthew, sechzehn, sahen nur kurz von ihren mit Schinken und Ei beladenen Tellern auf.

Nathan kam aus der Küche und stellte seinem ältesten Sohn einen Teller hin. »Ich hab dich gestern abend gehört, Mike. Du

bist spät gekommen.«

»Wir haben ein bißchen länger gemacht.«

»Von wegen«, warf Timothy grinsend ein. »Du hast Mary auf Umwegen heimgefahren, gib's doch zu!«

»Halt die Klappe, Tim.« Mißmutig begann er zu essen.

Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Mary hatte sich mit nächtlichen Verführungskünsten in seine Träume gestohlen. Aber die Träume hatten genauso geendet wie ihre realen Rendezvous immer endeten - unbefriedigend und mit Frust. Kein Wunder, daß Mike mißmutig aufgewacht war.

»Sherry hat gestern abend angerufen und nach dir gefragt«, bemerkte Matthew, der, wenn auch nur ein Jahr jünger, um einiges kleiner und schmächtiger war als Mike.

»Sherry ist Ricks Freundin«, sagte Mike.

»Außerdem«, mischte sich Tim vorlaut ein, »gehört sich's nicht, daß Mädchen Jungs anrufen.«

»Ich wollte es dir nur ausrichten, Mike.«

»Okay. Danke, Matt.«

Die drei Jungen aßen schweigend. Timothy und Matthew hatten auf geschlagene Bücher vor sich liegen. Der Vierzehnjährige besuchte noch die katholische Schule der Gemeinde St. Sebastian und hatte doppelt so viele Hausaufgaben zu machen wie seine beiden Brüder, die an der Reseda Highschool waren. Aber im nächsten Jahr würde er zum Glück auch endlich auf die Highschool kommen.

Nathan kam wieder aus der Küche und rollte seine Hemdärmel herunter. »Wieso bist du heute so still, Mike? Ist was nicht in Ordnung?«

»Ach, mir sitzen nur die Abschlußprüfungen in den Gliedern, Dad. Ich bin froh, wenn sie vorbei sind.«

Sein Vater gab ihm einen kurzen Klaps der Ermunterung, und er schluckte seinen Kummer hinunter; den Kummer darüber, daß sämtliche Jungen auf der Schule ihn um etwas beneideten, was er gar nicht hatte. Wer würde aber auch die Wahrheit glauben? Daß nun schon seit neun Monaten das hübscheste Mädchen der ganzen Schule seine Freundin war und er noch immer nichts erreicht hatte.

Mike stocherte in seinem kalten Rührei herum. Im Grund, dachte er verdrießlich, ist Rick der Glückspilz. Wenigstens läßt die dicke Sherry ihn ran.

»Mary Ann! Mary Ann! Steh jetzt sofort auf!«

Sie öffnete langsam die Augen und schaute unter schweren Lidern zum Fenster hinüber, durch das das flirrende Licht der Junisonne in ihr Zimmer strömte. Wieder so ein Morgen, dachte sie gereizt. Das ist jetzt schon der dritte. Wieso wache ich dauernd mit Übelkeit auf?

Die Tür öffnete sich, und Lucille McFarland steckte den Kopf ins Zimmer. »Noch einmal ruf ich dich nicht, Mary Ann. Wenn ich dich im Auto mitnehmen soll, mußt du endlich aufstehen.«

Mit einem tiefen Seufzer richtete Mary sich auf und rieb sich schlaftrunken die Augen. Sie spürte nicht einen Funken von dem Schwung und der Energie, die sie sonst morgens aus dem Bett trieben. Am liebsten hätte sie sich sofort wieder hingelegt. Vielleicht kam es daher, daß in zwei Wochen die Ferien anfingen. Vielleicht war es die asiatische Grippe. Noch einmal seufzte Mary zornig und gereizt, dann schwang sie die Beine aus dem Bett. Bis morgen mußte sie das jedenfalls überwunden haben. Morgen war Cheerleader-Probe für das kommende Schuljahr, und sie wollte unbedingt wieder mit im Team sein.

Warm und verlockend schien die Frühsommersonne durch die offenen Fenster des Klassenzimmers und weckte Phantasien von goldenen Tagen an weißen Stränden. Adam Slocum, der die Unruhe seiner Schüler sah, schluckte seinen Ärger hinunter. Er wußte genau, wie ihnen zumute war; er war noch nicht zu alt, um sich an den Lockruf des Sommers zu erinnern, an die Sehnsucht nach Freiheit und Ungebundenheit. Ihre Konzentration nahm ständig ab. Jedes Jahr war es das gleiche, man konnte von Februar bis Juni förmlich zusehen, wie das Interesse nachließ und ihre Aufmerksamkeit sich anderen Dingen zuwandte. Sie waren jung, voller Energie und Lebensfreude, und je näher der Sommer kam, desto schwerer fiel es ihnen, den Tag zu erwarten, an dem sie endlich hinausstürmen konnten in heiße Tage voller Lust und Spiel.

»Meine Damen und Herren«, rief er zum fünftenmal und klopfte mit seinem Zeigestab aufs Pult. »Bitte!«

Sie nahmen sich zusammen, wandten ihm konzentrierte junge Gesichter zu.

Adam Slocum räusperte sich und fuhr in seinem Vortrag fort. Einige Minuten lang zollten sie ihm schweigend Aufmerksamkeit, und er spürte, daß sie seinen Ausführungen folgten. Aber kaum hatte er sich umgedreht, um die Herzkammern an die Tafel zu zeichnen, hatte er ihre Aufmerksamkeit schon wieder verloren.

Aus dem Augenwinkel sah Mary das verstohlene Signal. Germaine Massey, ihre beste Freundin, die einige Bänke entfernt saß, winkte ihr zu. Mary drehte sich ein wenig und sah, wie Germaine vorsichtig den Deckel ihres Ringbuchs hob. Darunter kam der Rücken eines dicken, abgegriffenen Taschenbuchs zum Vorschein. Mary neigte den Kopf und las den Titel. Fanny Hill. Zwei Exemplare des verbotenen Romans waren an der Reseda Highschool in Umlauf. Germaine und Mary standen seit Wochen auf der Warteliste.

»Miss McFarland!«

Sie fuhr herum. »Ja, Sir.«

»Können Sie mir die Arterien nennen, die den Herzmuskel versorgen?«

Sie lächelte mit blitzenden Zähnen. »Ja, Sir.«

Adam Slocum wartete einen Moment, dann seufzte er und sagte müde: »Würden Sie dann freundlicherweise Ihr Wissen mit uns teilen?«

Die Klasse lachte. »Die Herzarterien, Sir.«

Adam Slocum unterdrückte ein Lächeln und schüttelte resigniert den Kopf. Er konnte Mary Ann McFarland einfach nicht böse sein.

Ein leichter Windstoß fegte durch die offenen Fenster in den Biologiesaal. Das Skelett in der Ecke klapperte leise, und ein scharfer Hauch von Formaldehyd wehte durch den Raum. Den Blick auf die jungen Gesichter seiner Schüler gerichtet, fuhr Adam Slocum in seinem Vortrag fort und dachte dabei, was für ein Vergnügen es war, eine Begabtenklasse zu unterrichten. Er bedauerte es, daß das Schuljahr nun bald zu Ende gehen würde.