»Ich wollte Ihnen sagen, daß ich wieder zu Hause bin, Pater.«

Im ersten Moment schien er nicht zu verstehen, dann fragte er erstaunt: »Ach, für immer? Deine Eltern möchten dich wohl lieber zu Hause haben?«

Marys Blick wanderte durchs Zimmer und fiel auf ein Porträt. »Pater, ist das der neue Papst?«

Lionel Crispin sah zu dem Bild hinauf. »Ja, das ist Papst Paul VI.«

Sie nickte und wandte sich wieder dem Priester zu. »Ich habe mich selbst entschieden, nach Hause zurückzukommen. Meine Eltern hatten mit der Entscheidung nichts zu tun. Ich bin letzten Freitag zurückgekommen. Ich wollte nicht mehr im St. Anne's bleiben.«

»Aha.« Das Lächeln verschwand. Die kleinen dunklen Augen unter den buschigen Brauen wurden ernst. »Und ist es

deinen Eltern jetzt recht, daß du zu Hause bist?«

»Ich weiß nicht genau. Ich glaub schon. Sie haben jedenfalls nichts davon gesagt, daß sie mich wieder ins St. Anne's schicken wollen.«

Zwischen den dunklen Augen erschien eine steile Falte, die sich immer mehr vertiefte.

»Pater, ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich ein Problem habe und nicht weiß, was ich machen soll.«

»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«

»Um meine Eltern geht es ja, Pater. Wir sind am letzten Sonntag nicht in die Kirche gekommen, weil meine Mutter sagte, sie fühle sich nicht wohl. Aber ich glaube, in Wirklichkeit geniert sie sich mit mir vor den anderen Leuten. Sie hat Angst, daß alle schauen und hinter meinem Rücken tuscheln. Mir ist das gleich, aber meiner Mutter nicht. Ich muß in die Kirche gehen können, Pater.«

Sein Gesicht entspannte sich sichtlich. Er erinnerte sich, daß Mary, als er sie das letztemal in seinem Büro gesehen hatte, fast apathisch gewesen war und kein Wort gesprochen hatte; von der Kirche hatte sie nichts wissen wollen.

Sein Lächeln wurde väterlich. »Natürlich helfe ich dir, Mary. Ich werde mit deiner Mutter sprechen.«

»Danke, Pater.«

»Aber sag mir doch, warum du nicht im St. Anne's geblieben bist.«

Mary senkte die Lider. »Ich habe mich dort nicht wohl gefühlt.«

Er nickte. »Aber dir ist klar, daß es eine Sünde war, einfach wegzulaufen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Wieso?«

»Du hast das vierte Gebot gebrochen. Du warst deinen El-tern ungehorsam.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht, Pater. Das beichte ich natürlich.«

Er zog die buschigen Brauen hoch. Vor zwei Monaten hatte sie das Sakrament verweigert. »Dann kann ich wohl annehmen, daß Pater Grundemann vom St. Anne's dir eine Hilfe war?«

»O ja. Er hat sich mehrmals lange mit mir unterhalten. Dann bin ich zur Beichte gegangen und war von da an jeden Tag bei der Kommunion.«

Mit einem befriedigten Lächeln lehnte er sich in seinem Sessel zurück und faltete die Hände auf dem Bauch. »Das freut mich wirklich, Mary. Wirklich.«

Sie hätte das Lächeln gern erwidert, aber sie konnte seinen Blick nicht lange aushalten. Wieder senkte sie die Lider.

»Pater Crispin?«

»Ja?«

»Ich -« Sie brach ab.

»Was ist denn, Mary?«

»Pater, ich weiß immer noch nicht, warum ich schwanger bin.«

Sie sah ihn vorsichtig an. Er wirkte so starr wie aus Stein gehauen, schien nicht einmal zu atmen. Dann beugte er sich plötzlich vor. »Du weißt immer noch nicht, warum?«

Mary schüttelte den Kopf.

Pater Crispin stemmte beide Hände gegen die Schreibtischkante und neigte sich weit zu ihr hinüber. »Du weißt immer noch nicht, warum du in diesem Zustand bist?«

»Nein, Pater.«

Er zwinkerte. »Mary, du bist schwanger, weil du eine unkeusche Handlung begangen hast. Das weißt du doch.«

»Aber ich hab nichts getan, Pater.«

Er zwinkerte mehrmals hintereinander sehr schnell. »Aber -du bist doch im St. Anne's zur Beichte gegangen. Du hast an der heiligen Kommunion teilgenommen.«

»Ja. Pater Grundemann hat mir die Absolution gegeben.«

»Ach! Wenn du überzeugt bist, keine unkeusche Handlung begangen zu haben, was hast du dann gebeichtet?«

»Daß ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen.«

Eisiges Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Und als Pater Crispin sprach, war seine Stimme kalt. »Mary Ann McFarland, soll das heißen, daß du an der heiligen Kommunion teilgenommen hast, obwohl du wußtest, daß auf deiner Seele eine Todsünde lastete, die du nicht gebeichtet hattest?«

»Nein, Pater«, entgegnete sie klar, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Ich habe Pater Grundemann alle meine Sünden gebeichtet und habe dafür die Buße getan, die er mir auferlegt hat.«

»Wovon sprichst du, Mary?«

»Von dem Selbstmordversuch.«

»Und was ist mit der Sünde der Fleischeslust?«

Sie duckte sich unter dem zornigen Blick des Priesters. »So eine Sünde habe ich nicht begangen, Pater.«

Er richtete sich auf, schloß die Augen und faltete wieder die Hände. Mit gekräuselten Lippen schien er ein kurzes lautloses Gebet zu sprechen. Dann öffnete er die Augen wieder und sagte mit langgeübter Geduld: »Mary, hältst du immer noch an der Behauptung fest, unberührt zu sein?«

»Es ist keine Behauptung, Pater. Es ist die Wahrheit. Ich bin unberührt.«

Einen Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, legte Pater Crispin die Stirn in die offene Hand, so daß Mary sein Gesicht nicht sehen konnte. Mary wartete voll Unbehagen. Schließlich hob der Priester den Kopf und sah sie streng an.

»Willst du behaupten, es handle sich bei dir um eine unbefleckte Empfängnis, Mary?«

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.

»Mary, du weißt, daß eine Frau nur auf einem Weg ein Kind empfangen kann. Du bist nicht dumm, Mary. Du bist schwanger, weil du mit einem Mann intim warst. Und da du es nicht gebeichtet hast, lastet diese Sünde immer noch auf deiner Seele. Dennoch hast du an der heiligen Kommunion teilgenommen.«

»Pater -«

»Mary Ann McFarland, wofür hältst du mich eigentlich? Beichte deine Sünde und reinige dich. Du bist nicht nur mit einer Todsünde belastet, du hast dich dazu noch der Gotteslästerung schuldig gemacht.«

Sie duckte sich noch tiefer. »Nein«, flüsterte sie, »das habe ich nicht getan.«

»Wie würdest du es denn nennen, wenn jemand im Stand der Sünde zur heiligen Kommunion geht?«

»Aber ich war doch nicht -« Der Priester, der vor ihr in seinem Sessel saß, schien ihr zu einem Riesen heranzuwachsen. Überwältigend in seiner Bedrohlichkeit, sah er sie an, und in seinen Augen funkelte ungezügelter Zorn.

»Pater Crispin, ich schwöre, ich habe niemals etwas getan -

«

»Mary!« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und streckte die Hand nach ihr aus. »Mary, du kommst jetzt mit mir in die Kirche. Sofort.«

Sie zuckte zurück.

»Nicht zur Beichte. Um zu beten. Wenn du Angst hast, müssen wir zu Gott beten und ihn um seinen Rat bitten. Ich weiß nicht, was dich zwingt zu schweigen, Mary, ob du schweigst, um den Jungen zu schützen, oder weil du dich schämst, deine Sünde einzugestehen. Ganz gleich, was es ist, du mußt dich jetzt an Gott wenden und ihn um seine Hilfe bitten. Komm jetzt, Mary, wir gehen jetzt in die Kirche und knien gemeinsam zum Gebet nieder. Öffne Gott dein Herz. Laß ihn eintreten. Laß dir von ihm helfen. Bitte ihn um seinen Rat, Mary. Er wird die Antwort geben.«

Sie faltete die Hände und preßte die Finger so fest aneinander, daß ihr die Knöchel weh taten, als könnte sie durch den körperlichen Schmerz ihre Inbrunst beweisen. Neben ihr kniete steif Pater Crispin, den Kopf mit dem kahlen Scheitel über die gefalteten Hände geneigt. Sie hörte seinen Atem und spürte seine Nähe.

Die Kirche war leer. Die warme Luft roch nach Weihrauch und Kerzenqualm. Der Altar war unter der Blumenfülle kaum zu sehen. Farbiges Licht strömte durch die Buntglasfenster und tauchte das Gestühl und den Marmorfußboden in gleißendes Licht. Marys Knie auf dem Kunststoffpolster begannen zu schmerzen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und Gott mit stummen Schreien zu zwingen, sie zu hören. Sie stellte sich einen Rosenkranz in ihren Händen vor, meinte zu spüren, daß die Perlen durch ihre Finger liefen. Ein Vaterunser. Drei Gegrüßet seist du, Maria.

Es stimmte nicht. Sie senkte den Kopf in tiefer Konzentration. Ehre dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.

Sie betete ein Gegrüßet seist du, Maria nach dem anderen. Die Worte klangen sinn- und bedeutungslos in ihrem Hirn, eine endlose Aneinanderreihung sich wiederholender Vokale und Konsonanten. Sie verlor das geistige Bild des Rosenkranzes. Ein Gegrüßet seist du, Maria verschmolz mit dem nächsten.

Verzweifelt über ihre Unfähigkeit, den rechten Weg zu finden, um mit Gott in Zwiesprache treten zu können, öffnete Mary die Augen und hob den Kopf. Suchend blickte sie zum Altar. Die Augen fest auf den gekreuzigten Jesus gerichtet, begann sie von neuem zu beten.

Aber es ging nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Alles war falsch, nichts stimmte. Sie warf einen Blick auf Pater Crispin, der tief im Gebet versunken war. Von neuem sah sie zum gekreuzigten Christus auf und versuchte es noch einmal.

Herr erbarme dich meiner! Christus, erbarme dich meiner! Ihr Blick schweifte zur Statue der Jungfrau Maria, die links von der Kanzel stand.

Gott allmächtiger, einziger Gott, erbarme dich meiner!

Sie schluckte krampfhaft.

Jesus, erbarme dich meiner!

Heilige Maria, Mutter Gottes, erbarme dich meiner!

Ihr Blick glitt von der Heiligen Jungfrau ab und blieb an dem Bild vor der ersten Station des Kreuzwegs hängen. Eine seltsame, ängstliche Unruhe bemächtigte sich ihrer. Ohne etwas wahrzunehmen, sah sie mit starrem Auge ins Halbdunkel und rang mit den Worten in ihrem Kopf.