12


»Wo ist denn Daddy heute abend?« fragte Mary, die am Spülbecken stand und Kartoffeln schälte.

»Beim Training.«

»Wieso? Heute ist doch Dienstag.«

Lucille zuckte die Achseln, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Sie saß am Küchentisch und klebte Rabattmarken in kleine Heftchen.

Mary sah zu ihrer Mutter hinunter, beobachtete einen Moment, mit welcher Konzentration sie die Marken sortierte, befeuchtete und mit dem Handballen in das Heft preßte. Noch nie hatte Mary erlebt, daß ihre Mutter sich zu dieser stupiden Arbeit herabließ. Das hatten immer Mary und Amy machen müssen, wenn sie auch nie den Lohn dafür hatten einstreichen dürfen. Lucille hatte immer so getan, als wäre das Sammeln von Rabattmarken unter ihrer Würde, und gelegentlich hatte sie sie demonstrativ einer ihrer Freundinnen geschenkt und dazu gesagt: Das ist mir viel zu mühsam. Aber insgeheim hatte sie die Marken immer gesammelt und ihre gefüllten Hefte mal für einen Wecker, mal für eine Nachttischlampe

eingetauscht.

Mary dachte an Mike. Es hätte sie interessiert, ob er wußte, daß sie wieder zu Hause war. Mehrmals hatte sie ihn anrufen wollen, aber stets hatte sie der Mut verlassen, noch ehe sie seine Nummer zu Ende gewählt hatte. Was fürchtete sie? Mike war Mike, und es gab doch gewiß eine Möglichkeit, wieder mit ihm zusammenzukommen.

Aber Mary wußte, wie es werden würde. Selbst wenn er sie mit der Zeit so akzeptieren sollte, wie sie war, würde er in ihrem Beisein niemals ganz locker und entspannt sein können. Er würde sich verhalten wie ihre Eltern, bemüht natürlich und beiläufig.

Draußen fuhr ein Wagen vor. Lucille und Mary hielten in ihrer Arbeit inne. Ihre Blicke trafen sich flüchtig. »Daddy«, sagte Mary leise. Sie ließ den Kartoffelschäler fallen, wischte sich die Hände an der Schürze ab und lief hinaus.

Als die Haustür sich öffnete, blieb sie stehen. Im Abendlicht stand Amy mit ihrem Rucksack. Sie drehte sich um und rief zur Auffahrt hinaus: »Tschüs, Melody. Vielen Dank. Ich ruf dich morgen an.« Dann kam sie herein und schloß die Tür.

»Amy«, sagte Mary.

Amy fuhr zusammen. »Mary! Du bist wieder zu Hause?«

»Sie mußte ihren Besuch abbrechen«, sagte Lucille von der Küche her. »Ich dachte, ihr wolltet die ganze Woche wegbleiben, Amy.«

»Ja, aber Melodys Mutter ist krank geworden, deshalb mußten wir wieder heimfahren.« Sie lief zu Mary und nahm ihre Hand. »Wie war's in Vermont, Mary? Erzähl! Wann bist du heimgekommen? Ach, ich find's toll, daß du wieder da bist.«

Die beiden Mädchen gingen an ihrer Mutter vorbei in das kühle Wohnzimmer.

»Letzten Freitag«, antwortete Mary.

»Amy«, sagte Lucille nervös, »warum gehst du nicht erst mal in dein Zimmer und ziehst dich um? Wir essen bald.«

»Ach, Mama.« Sie warf sich aufs Sofa und sah lachend zu ihrer Schwester auf. »Los, erzähl schon. Wie war's in Vermont?«

»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Amy -«

»Mary.« Lucille legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. »Meinst du nicht, wir sollten warten, bis dein Vater da ist?«

Der Druck von Lucilles Fingern auf ihrer Schulter war beinahe schmerzhaft. »Ja, natürlich, wenn du meinst«, murmelte Mary.

»Aber wieso denn?« Amy sah ihre Mutter an. Als die nichts sagte, richtete sie ihren Blick wieder auf Mary. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Hey, Mary, du siehst ganz anders aus.«

»Findest du?«

»Ja. Du bist dick geworden.« Amy kicherte.

»Euer Vater wird bald kommen«, sagte Lucille hastig.

Mary sah ihre Mutter an. Ein seltsamer, gequälter Ausdruck flog über Lucilles Gesicht. Dann wurde es weich und traurig.

»Bitte, Mary Ann, laß uns warten, bis euer Vater da ist.«

»In Ordnung.«

Lucille ließ Mary los und ging zur Tür. »Amy, pack du jetzt erst mal deinen Rucksack aus und zieh dich um. Eine Dusche könnte dir wahrscheinlich auch nicht schaden. Wenn du fertig bist, kannst du uns erzählen.«

Amy packte ihren Rucksack und lief aus dem Zimmer. »Ich weiß, warum du dick geworden bist, Mary«, rief sie, während sie durch den Flur rannte. »Das kommt von dem vielen Ahornsirup, den sie in Vermont essen.«

Sie fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf. Einen Moment lang wußte sie nicht, wo sie war. Sie lauschte in die Dunkelheit. Alles war still. Langsam fand sie sich zurecht. Sie war zu Hause, in ihrem Zimmer.

Wie spät mochte es sein? Im Haus rührte sich nichts. Nicht einmal das leise Brummen der Klimaanlage war zu hören. Sie setzte sich auf und merkte, daß sie völlig angekleidet war. In Schnappschüssen kam die Erinnerung. Amy, die im Schwimmbecken planschte; ihre Mutter in der Küche, mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt; das Aufflammen der Lichter im Haus, als es dunkel wurde; das Abendessen zu dritt, ohne ihren Vater, der noch nicht heimgekommen war; sie und Amy beim Abspülen in der Küche; ihre Mutter, die immer wieder zum Fenster hinaussah; Amy im Wohnzimmer beim Fernsehen; sie selbst auf dem Weg in ihr Zimmer, um sich hinzulegen.

Sie knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Halb zehn. Sie glitt aus dem Bett, ging zur Tür und öffnete sie. Am Ende des Flurs schimmerte gedämpftes Licht. Mary hörte Stimmen und ging dem Klang nach. Wie eine Einbrecherin schlich sie über den dicken Teppich. An der Wohnzimmertür blieb sie stehen. Die Schiebetür zur Terrasse war offen. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Ihre Eltern saßen nebeneinander auf dem Sofa, Amy gegenüber.

Mary blieb unbemerkt hinter dem Türpfosten stehen und hörte ihre Schwester sagen: »Aber wie kann denn Mary ein Kind bekommen, wenn sie nicht verheiratet ist?«

Mary zitterten die Knie. Sie lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich verraten. Ihr hättet warten können, dachte sie zornig. Ihr hättet warten müssen.

»Jede Frau kann ein Kind bekommen, Amy«, antwortete

Lucille, »auch wenn sie nicht verheiratet ist.«

»Aber wie denn?«

Mary hielt sich am Türpfosten fest und spähte vorsichtig ins Zimmer. Ihr Blick flog zum Gesicht ihres Vaters. Fast tat er ihr leid; er sah so unglücklich aus.

»Schau mal, Amy, wenn ein Mädchen ein bestimmtes Alter erreicht hat, bekommt es jeden Monat seine Regel. Und wenn das geschieht, kann sie auch jederzeit Kinder bekommen. Wenn sie dann mit einem Mann zusammen ist, wenn sie sich lieben, ich meine -« Lucille stockte.

»Du meinst, wenn sie miteinander schlafen?«

»Ja.«

»Und das hat Mary getan?«

Ehe ihre Mutter oder ihr Vater darauf antworten konnten, trat Mary ins Zimmer. »Nein«, sagte sie klar, »ich habe mit niemandem geschlafen.«

Lucille und Ted hoben ruckartig die Köpfe, Amy fuhr herum. »Es ist mir gleich, was ihr denkt. Ich hab nie was mit einem Jungen gehabt.«

»Aber wie kannst du dann ein Kind bekommen?« fragte Amy verwirrt.

Einen Moment war Mary unsicher und sah hilfesuchend ihren Vater an. Als er nicht reagierte, ging sie zu Amy. Sie kniete neben ihr nieder und sah ihr in die verwirrten braunen Augen. »Ich kann es dir nicht erklären, Amy«, sagte sie ruhig und klar. »Niemand kann es erklären, nicht einmal der Arzt, bei dem ich in Behandlung bin. Ich war auf einmal schwanger, ohne jeden Grund.«

Amy machte ein Gesicht, als säße sie über einer schweren Rechenaufgabe. »Das versteh ich nicht. Wie kann man ohne Grund schwanger werden?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Mary leise.

Das Schweigen im Zimmer war so drückend wie die Luft in einem Treibhaus. Es füllte den Raum bis in die äußersten Winkel, und keiner konnte sich in dieser Stille regen. Amy und Mary sahen einander immer noch an. Lucille senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände. Ted sank tiefer ins Sofa und starrte ins Leere.

Dann schüttelte Amy den Kopf. »Aber wenn du nichts Schlimmes getan hast, Mary«, sagte sie, »warum wollen Mama und Daddy dich dann verstecken?«

Die Sebastianskirche war älter, als es den Anschein hatte. Tarzanas katholische Kirche, ein moderner, weißgekalkter Bau mit großen Fenstern und einem stilisierten Kreuz in der Mitte der Fassade, war dort errichtet worden, wo früher, vor langer Zeit, mitten in einem Orangenhain die bescheidene, aus Lehm erbaute Kirche San Sebastiano gestanden hatte. Von den heute lebenden Gemeindemitgliedern kannte keiner mehr die kleine Kirche, die 1780 erbaut worden war, als die spanischen Franziskaner mit Pater Serra in dieses Tal gekommen waren und die San Fernando Mission gegründet hatten. Heute erinnerte nur noch eine bronzene Gedenktafel, die an einer Ecke des Parkplatzes in den Boden eingelassen war, an die Mission und den Ort, wo 1783 der erste Indianer getauft worden war.

Eine Gruppe Leute trat aus der Kirche in den warmen Morgen hinaus. Hastig suchte Mary unter ihnen nach Pater Crispin und entdeckte ihn auf dem Weg zu seinem Haus.

»Pater!«

Er machte halt und drehte sich um. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er einen Moment in die Sonne, dann glättete sich sein Gesicht, und er sah dem Mädchen mit einem

breiten Lächeln entgegen.

»Pater Crispin«, sagte Mary atemlos. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«

»Aber natürlich, Mary. Komm herein.«

Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Lionel Crispin war trotz seiner Leibesfülle ein sehr agiler Mann.

Sein Büro war dunkel und kühl, holzgetäfelte Wände und braune Ledersessel; starker Kontrast zu dem blendenden Weiß und dem blitzenden Glas der Kirche. Ein wenig außer Atem, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Das zugeknöpfte schwarze Jackett spannte über seinem Bauch.

»Setz dich, Mary«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?«

Der steife elisabethanische Lehnstuhl war unbequem. Sie legte die Hände auf die hölzernen Armlehnen, die in gekrümmten Tierpfoten endeten.