»Ich bin mir der Verantwortung völlig bewußt. Wenn ich veröffentliche, ebne ich zukünftigen parthenogenetischen Müttern den Weg, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Dieses Mädchen geht durch eine wahre Hölle, Bernie; sie hat sogar einen Selbstmordversuch gemacht, weil niemand ihr glaubt. Wenn ich meine Befunde veröffentliche und beweise, so daß die Parthenogenese als natürliches Phänomen akzeptiert wird, erspare ich damit zukünftigen Mary Ann McFarlands den ganzen Kummer und die Verzweiflung, die dieses Mädchen jetzt durchmachen muß.«
Bernies dunkle Augen zeigten Skepsis. »Ist das wirklich dein Motiv zu veröffentlichen, Jonas?« Er sah den Freund forschend an. »Oder ist es nur ein Vorwand, eine wohlklingende Ausrede?«
»Was zum Teufel soll das heißen?«
Noch einen Moment sah Bernie ihn an, schien mit sich im Kampf, dann zuckte er die Achseln und sah auf seine Uhr. »Ich muß gehen, Jonas. Esther wird sich schon wundern, wo ich bleibe. Und dann gibt sie mir die Schuld an den verkochten Kartoffeln.«
»Bernie, ich brauche deinen Rat.«
»Nein, den brauchst du nicht, Jonas. Für dich ist schon alles klar. Du hattest dich schon entschieden, ehe ich heute abend hierherkam. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, wie ich über diese Sache denke.«
»Und wie denkst du darüber? Sag es mir!«
Bernie, der schon auf dem Weg zur Tür war, drehte sich um. »Du machst sie und ihr Kind zur öffentlichen Sensation, wenn du veröffentlichst. Auch wenn du deinen Bericht nur an eine Fachzeitschrift gibst, wie sich das für einen ernstzunehmenden Wissenschaftler mit ethischen Grundsätzen gehört, wird die Sache durchsickern. Dann berichtet erst die eine darüber, dann die andere Zeitschrift, und eh du dich's versiehst, sind sämtliche Boulevardblätter und die Regenbogenpresse voll mit Fotos von Mutter und Kind.« Bernie legte die Hand auf den Türknauf. »Willst du das wirklich?«
»Das ließe sich verhindern .«
Bernie hob abwehrend die Hand. »Jonas, überleg es dir genau, ehe du diesen Schritt tust. Prüfe deine Motive.«
Jonas brachte den Freund bis vor das Haus und blieb auf der Veranda stehen, während Bernie in Hawaiihemd und Bermudashorts durch den schwülen Abend davonging. Dann kehrte er aufgewühlt von Bernies Worten in sein Arbeitszimmer zurück.
Prüfe deine Motive. Du hast einen Vorwand gesucht, eine wohlklingende Ausrede ... Aber es war kein Vor wand, der ihm dazu dienen sollte, sich ein reines Gewissen zu erhalten; es war die Wahrheit. Er konnte in aller Aufrichtigkeit sagen, daß er nur veröffentlichen wollte, um zukünftigen partheno-genetischen Müttern das zu ersparen, was Mary jetzt durchmachen mußte.
Wirklich? Gott verdamm dich, Bernie Schwartz, daß du mich besser kennst als ich mich selbst ...
Es war, als hätte Bernie mit seinen Worten einen Schleier weggezogen, hinter dem Jonas bis jetzt seine Angst vor sich verborgen gehalten hatte. Seine Angst vor der Zukunft. Es ging hier nicht um einen Durchbruch der Wissenschaft; es ging um den Durchbruch von Jonas Wade. Dies war für ihn vielleicht die letzte Chance, sich einen Platz in der langen Reihe illustrer Ärzte zu erobern, die die medizinische Wissenschaft zu dem gemacht hatten, was sie heute war. Es boten sich nicht viele Gelegenheiten, sich zu diesen Höhen emporzuschwingen; man mußte die Chance ergreifen, wenn sie sich bot.
Er hob den Kopf und blickte auf die neue Urkunde, die über seinem Schreibtisch hing. Präsident der Galen-Gesellschaft. Das war keine Leistung, um derentwillen die Nachwelt sich seiner erinnern würde. Sein Blick ging weiter: das Diplom der medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in Berkeley, Abschlußexamen summa cum laude; Auszeichnungen für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin; ein Schreiben von der Hand des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Daten, die die Urkunden trugen, lagen Jahre zurück. Er war der Beste seines Jahrgangs gewesen, der Weg zu Ruhm und Erfolg schien vorgezeichnet, alle Türen hatten ihm offengestanden. Er hatte Angebote von den besten Universitäten und Krankenhäusern des Landes erhalten, und der brillante junge Arzt, der allenthalben Ehrungen und Auszeichnungen einheimste, hatte geglaubt, er könne die medizinische Welt aus den Angeln heben.
Dann hatte er Penny geheiratet. Zwei Kinder im Abstand von eineinhalb Jahren, eine neue Praxis in Tarzana und eine Menge Schulden. Das tägliche banale Einerlei der Praxis -Mandelentzündungen, Krampfadern, Hämorrhoiden. Statt nach Ruhm und Erfolg zu greifen, griff er nach Stethoskop und Reflexhammer. Brillanz und hochfliegende Träume gingen unter in bequemer Routine.
Er hatte diese Träume vergessen gehabt - bis jetzt.
Er sah zu dem Gemälde Rembrandts hinauf. Dr. Tulp war unsterblich geworden. Geradeso wie Vesalius, William Harvey, Joseph Lister, Robert Koch, Walter Reed. Wer würde sich an Jonas Wade erinnern? Er hatte beim Eintritt in den Ruhestand nicht einmal eine goldene Uhr zu erwarten.
Er ließ sich in seinen Sessel fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Jahrelang war er mit seinem Leben zufrieden gewesen. Dreißig Stunden die Woche in der Praxis, zehn im Operationssaal, vier auf dem Golfplatz, zwölf vor dem Fernsehapparat; sein Leben war eine Folge von Stunden, die verbracht werden mußten, herumgebracht, totgeschlagen werden mußten. Und was würde er am Ende dieser langen Kette von Stunden vorweisen können? Nichts. In den neunzehn Jahren seit seiner Promotion hatte sich Jonas Wade nicht einmal die Zeit genommen, sein Leben zu hinterfragen; jetzt, wo er es tat, zog er es zugleich in Zweifel. Dies war der Moment, die Chance zu Ruhm und Anerkennung: Der Mann, der zum erstenmal die spontane Parthenogenese beim Menschen beschrieb.
»Jonas?«
Er sah auf. Penny stand an der offenen Tür.
»Ich habe mit dir geredet. Hast du mich nicht gehört?«
»Nein. Entschuldige, ich war ganz in Gedanken.«
Sie kam herein. Auf dem Schreibtisch und dem Sofa lagen Stapel von Fotokopien und handschriftlichen Aufzeichnungen. Sie warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Wenn Jonas soweit war, daß er ihr von dem Fall erzählen wollte, der ihn seit Wochen so tief beschäftigte, würde er es von selbst tun.
»Du mußt mit Cortney sprechen, Jonas. Sie hat mir eben eröffnet, daß sie ausziehen und sich eine eigene Wohnung nehmen will.«
»Was?«
»Ja, sie möchte mit Sarah Long zusammenziehen.«
»Und wie will sie das bezahlen?«
»Sie sagte, sie würde sich einen Job suchen.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Erst wenn sie mit der Schule fertig ist.«
»Sie ist fest entschlossen, Jonas.«
»Was paßt ihr denn hier nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Penny breitete hilflos die Hände aus. »Ich habe versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber ich dringe nicht durch.«
»Okay, ich werde mich mal mit der Dame unterhalten.«
Penny zögerte einen Moment, dann drehte sie sich um und eilte aus dem Zimmer.
Jonas sah wieder auf die Papiere, aus denen sein sensationeller Bericht entstehen sollte.
Eine Ausrede, ein Vorwand, um mein Gewissen zu schonen. Es ist nicht recht, Mary um meines eigenen Ruhmes willen all dem Wirbel und all den Widerwärtigkeiten auszusetzen, die auf meinen Bericht folgen würden. Man würde sie ausbeuten, die gesamte Sensationspresse würde über sie herfallen und sie und ihr Kind nicht mehr in Ruhe lassen. Habe ich das Recht, das in Kauf zu nehmen?
Und weiter: Welche möglicherweise weitreichenden Auswirkungen könnte diese Theorie über die Parthenogenese zeigen? Wenn ich die Ursache der Schwangerschaft und ihrer Entstehung im Detail beschreibe, wird dann nicht vielleicht irgendein Wissenschaftler zugreifen, sich menschliche Versuchskaninchen suchen und alles daransetzen, um die bei Mary gegebenen Umstände künstlich herzustellen? Wie viele Frauen gibt es, die sich verzweifelt ein Kind wünschen; ein Kind, das in ihrem eigenen Leib gewachsen ist; die aber keinen Ehemann haben; deren Mutterinstinkt so stark ausgeprägt ist, daß er ihnen zur fixen Idee wird, und die dennoch zu intimen
Beziehungen mit einem Mann nicht fähig sind? Sie würden sich dafür hergeben, o ja, mit Freuden. Sie würden das Wade-McFarland-Verfahren an sich ausprobieren lassen, nur um schwanger zu werden.
Jonas schauderte innerlich.
Wenn man diesen Gedanken bis zu seiner letzten Konsequenz weiterführte, gelangte man zu einem radikalen gesellschaftlichen Umsturz. Was würde aus den sexuellen Sitten und Ritualen der Menschen werden, wenn Frauen sich durch Jungfernzeugung fortpflanzen konnten? Was würde aus den Männern werden?
Ich würde die Tür zu einer Welt ohne Männer öffnen, dachte Jonas. Aber ist das nicht genau das, was Dorothy Henderson tut? Nein, ihr Verfahren schließt die männlichen Geschöpfe nicht aus; jedes der beiden Geschlechter kann dupliziert werden. Bei der Parthenogenese hingegen spielt der Mann keine Rolle; er ist obsolet.
Wem gilt meine Verpflichtung - der Wissenschaft und der Aufklärung, oder der Menschheit und meinem Gewissen vor Gott?
Aber wenn ich den Bericht nicht schreibe, wird es irgendwann, bald schon vielleicht, ein anderer tun.
Große Veränderungen bahnen sich in der Wissenschaft an; die Menschheit steht auf der Schwelle zu unerhörten Entdeckungen, und ich möchte zu den Pionieren gehören. Ich will nicht irgendwo unter ferner liefen enden.
Die einen werden mich umjubeln, die anderen werden mich beschimpfen. Paul Ehrlich, der das Heilmittel für die Syphilis entdeckte, wurde geächtet. Er habe gegen Gottes Gebot verstoßen, sagte man, denn die Geschlechtskrankheit sei Gottes Strafe für die Unzucht. Es war so, wie Dorothy Henderson gesagt hatte: Der Mann, der die Kinderlähmung heilte, wurde mit Lorbeer bekränzt; der Mann, der die Geschlechtskrankheit bekämpfte, wurde mit Schimpf und Schande überhäuft. Und was habe ich vor? Ich bin dabei, dem Menschen ein gefährliches Werkzeug in die Hand zu geben, eine Waffe vielleicht gar, einen Schlüssel zum schrecklichsten aller futurologischen Alpträume - zur Genmanipulation.
"Bitteres Geheimnis(Childsong)" отзывы
Отзывы читателей о книге "Bitteres Geheimnis(Childsong)". Читайте комментарии и мнения людей о произведении.
Понравилась книга? Поделитесь впечатлениями - оставьте Ваш отзыв и расскажите о книге "Bitteres Geheimnis(Childsong)" друзьям в соцсетях.