Er war geplagt von dem Verlangen, ihr zu verzeihen, aber zu stolz, den ersten Schritt zu tun.
Mit einem Ruck wälzte er sich herum und schlug mit der Faust in sein Kopfkissen. Er war tief getroffen gewesen, als er heute von seinem Vater gehört hatte, daß sie nach Hause zurückgekehrt war, ohne sich bei ihm zu melden. Jetzt war alles noch schlimmer geworden. Solange Mary fort gewesen war, hatte Mike seinen Kummer und seine tiefe Niedergeschlagenheit beherrschen können; jetzt, wo sie wieder da war, kam alles von neuem hoch. Erst der Impuls, sie anzurufen, sie zu küssen, mit ihr zu weinen. Dann Wut. Sie hatte ihn belogen. Danach der Wunsch, sich zu ihr zu setzen und ruhig zu fragen: Warum, Mary? Warum ein anderer und nicht ich?
Hundertmal war er drauf und dran gewesen, im St. Anne's anzurufen. Aber immer, wenn er angefangen hatte zu wählen, hatte er wieder aufgelegt. Hätte er sie nur vergessen können. Warum schnappte er sich nicht einfach die dicke Sherry, die ihm hinterherrannte wie ein Hündchen und von der er bestimmt alles kriegen konnte, was er wollte? Oder Sheila Brabent mit dem großen Busen.
Warum Mary?
Wieder schlug er ins Kissen.
Dann seine Freunde. Diese fürchterliche Entscheidung, ob er die Verantwortung für Marys Schwangerschaft auf sich nehmen oder die Wahrheit sagen und zugeben sollte, daß er nur angegeben hatte. Er wußte nicht, was er tun sollte.
Sein Vater, der von der ganzen Geschichte völlig niedergeschmettert war, bestand immer noch darauf, daß Mike zu ihr stehen und sie heiraten sollte. Und Pater Crispin forderte ihn immer wieder auf, er solle seine Sünde endlich beichten, und glaubte ihm nicht, daß er mit Marys Schwangerschaft nichts zu tun hatte.
Mike hoffte jetzt verzweifelt, daß das Kind gleich nach der Geburt weggegeben würde und zwischen ihm und Mary alles wieder so werden würde, wie es gewesen war. Sie hatte ihn belogen, sie hatte kein Vertrauen zu ihm gehabt, aber er liebte sie immer noch. Er liebte sie mehr denn je.
11
Der Leichnam lag auf dem Tisch, nackt bis auf ein Lendentuch, den linken Arm abgespreizt, so daß die Sehnen und Muskeln deutlich hervortraten. Acht bärtige Männer standen in staunender Aufmerksamkeit um ihn herum. Es war eine hervorragende Reproduktion von Rembrandts Anatomiestunde bei Dr. Tulp, und Bernie Schwartz war gefesselt von der Darstellung.
Jonas, der dem Freund in seinem Arbeitszimmer gegenübersaß, wartete ungeduldig auf einen Kommentar. Als das Schweigen sich in die Länge zog, hielt er es nicht mehr aus. »Und?« fragte er. »Was sagst du?«
Bernie wandte den Blick von dem Bild und richtete ihn auf Jonas. »Du hast mich überzeugt.«
Jonas entspannte sich etwas. »Dann bin ich also nicht verrückt.«
Bernie lächelte. »Nein, mein Freund, das bist du nicht. Das alles ist doch nicht zu widerlegen.« Er wies mit seiner kurzen, weichen Hand auf die Papiere, die vor ihm auf dem Sofa ausgebreitet lagen. Er hatte die vergangene halbe Stunde damit zugebracht, Jonas Wades Aufzeichnungen und die umfangreiche Bibliographie durchzusehen. »Ich muß sagen«, fügte er hinzu, »ich bin beeindruckt. Ich hätte das nicht für möglich gehalten. Vor zwei Monaten war ich noch sicher, du hättest einen Floh im Ohr. Jetzt hast du mich überzeugt.«
Jonas war erregt. Die Tatsache, daß Bernie Schwartz seine Theorie akzeptierte, beflügelte seinen Ehrgeiz. Er stand auf
und ging ein paarmal im Zimmer hin und her.
»Mir macht die Sache angst, Bernie.«
»Wieso?«
Jonas schloß die Zimmertür, als draußen jemand den Fernsehapparat aufdrehte, und kehrte zu seinem Sessel zurück.
»Ich war die ganze Zeit ziemlich sicher«, sagte er, »daß es nur eine formlose Gewebemasse ist, eine Wucherung. Ich hatte vor, den behandelnden Arzt im St. Anne's aufzusuchen und ihm meinen Verdacht mitzuteilen. Ich wollte sie dann in ein paar Wochen operieren. Ich rechnete mit einem Dermoid. Aber dann -« er schaute einen Moment in sein Whiskyglas, dann stellte er es auf den Tisch -, »dann erschien sie in meiner Praxis und sagte, sie hätte seinen Herzschlag gehört.«
»Na und? Was ist daran so beängstigend?«
»Es ist ein parthenogenetischer Fötus, Bernie. Dir ist doch klar, was das bedeutet? Lieber Gott, wer weiß, was da herauskommt.«
»Na, was man in solchen Zweifelsfällen macht, weißt du doch besser als ich. Mach ein paar Röntgenaufnahmen.«
»Das kann ich nicht. Es ist zu früh. Vor der vierundzwanzigsten Woche kann man nicht röntgen. Die Strahlung könnte dem Fötus schaden.«
»Dann kannst du nur warten. Ich bin sicher, das Kind ist normal, Jonas -«
»Und woher nimmst du diese Sicherheit?« Ein Anflug von Ärger schwang in seiner Stimme. »Im Labor wurden bei Stimulation durch Stromschlag gesunde Mäuse hervorgebracht. Es wurden aber auch Mutationen geboren.« Jonas schwieg einen Moment, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Mutationen, Bernie!«
»Es hat einen Herzschlag -«
»Auch eine Mißgeburt kann einen Herzschlag haben, Herrgott noch mal!«
Die beiden Männer sahen sich schweigend an.
»Es ist eine Riesenverantwortung«, murmelte Jonas schließlich. »Ich muß mit den Eltern sprechen. Sie müssen gewarnt werden.«
»Was redest du da, Jonas?« fragte Bernie scharf. »Sprichst du von Abtreibung?«
Jonas zog die Brauen hoch. »Aber nein! Der Gedanke ist mir überhaupt nicht gekommen. Außerdem kommt das sowieso nicht in Frage. Das Kind kann deformiert sein, aber es muß nicht so sein, und im Augenblick können wir nicht röntgen. Bis wir Aufnahmen machen können, ist es sowieso zu spät. Dann ist eine Abtreibung nicht mehr möglich.«
»Selbst wenn das Kind deformiert ist?«
»Dem Gesetz nach ist ein Embryo mit sechs Monaten lebensfähig, Bernie. Kein Gericht weit und breit würde einem Abbruch aufgrund einer Deformierung des Kindes zustimmen. Da müßte ich schon nachweisen, daß das Leben der Mutter auf dem Spiel steht.«
»Du hast ja noch Zeit, Jonas.«
Wieder sprang Jonas auf und lief ein paarmal rastlos hin und her. Er konnte nicht auf die Röntgenaufnahmen warten; bis dahin waren es noch acht oder neun Wochen. Er mußte früher Gewißheit haben. Er mußte sie jetzt haben. Abrupt blieb er stehen.
»Bernie, ich möchte eine Fruchtwasseruntersuchung machen.«
»Was? Aber Jonas, das ist doch eine äußerst heikle Geschichte. Die Untersuchung befindet sich noch in der experimentellen Phase und ist äußerst riskant.«
»Ihr macht sie doch bei Müttern mit negativem Rhesusfaktor, oder nicht?«
»Zunächst einmal, Jonas: Ich mache gar nichts. Die Fruchtwasseruntersuchung wird in Krankenhäusern von Spezialisten durchgeführt, und die Blutuntersuchungen werden im Labor gemacht. Kann sein, daß einige Leute in meiner Abteilung mit Fruchtwasser experimentieren und genetische Untersuchungen machen, aber ich habe so was nie gesehen. Im übrigen wird so eine Untersuchung nur gemacht, wenn es auf Leben und Tod geht. Nicht um die Neugier zu befriedigen.«
»Aber du könntest die genetischen Untersuchungen machen, Bernie, wenn du eine Probe des Fruchtwassers hättest?«
»Du meinst, ob ich mir die Chromosomen anschauen und feststellen könnte, ob das Kind deformiert ist?«
»Ja.«
»Nicht mit Sicherheit, Jonas. Mongolismus und gewisse andere Krankheiten oder Abweichungen könnte ich feststellen, aber so ein Test zeigt längst nicht alles. Bedenk doch die Risiken, Jonas. Verletzung des Fötus, Risiko einer Frühgeburt, Infektion. Und wozu? Bleib bei deinen Röntgenaufnahmen, Jonas.«
»So lange kann ich nicht warten, Bernie.«
»Jonas, du brauchst keine Chromosomenuntersuchung, um die Eltern des Mädchens davon zu überzeugen, daß ihre Tochter die Wahrheit sagt. Du hast hier mehr als genug Beweise. Und was die Möglichkeit angeht, daß das Kind deformiert ist, so wiegen die Unzuverlässigkeit der Fruchtwasseruntersuchung und die Gefahren, die mit ihr verbunden sind, weit schwerer als alle fragwürdigen Beweise, die sie dir vielleicht bringt.«
»Bernie«, sagte Jonas eindringlich, »ich möchte, daß die Untersuchung gemacht wird.«
Bernie stand langsam aus seinem Sessel auf und schüttelte den Kopf.
»Weißt du, was ich glaube, Jonas? Du willst die Fruchtwasseruntersuchung nicht haben, weil du um das Wohl dieses Mädchens besorgt bist. Du willst sie für deine eigenen Zwecke haben.«
Mit einer hastigen Bewegung wandte sich Jonas ab und griff nach seinem Glas. Hinter sich hörte er Bernie sagen: »Du bist ja völlig besessen von dem Fall. Wenn du das Mädchen schützen und ihre Eltern und Freunde davon überzeugen willst, daß sie wirklich unberührt ist, dann hast du hier Beweise genug. Jetzt auch noch eine Fruchtwasseruntersuchung zu verlangen, wo die Röntgenaufnahmen dir alles zeigen werden, was du wissen willst, ist der pure Wahnsinn. So kann nur ein Mensch handeln, der andere Motive hat.« Bernie trat hinter den Freund und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Worum geht's wirklich, Jonas?«
Jonas drehte sich langsam um. Er holte einmal tief Atem und sagte entschlossen: »Ich will veröffentlichen, Bernie.«
Bernie starrte ihn einen Moment lang wortlos an, dann erwiderte er: »Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Doch. Ich wäre ein Narr, wenn ich es nicht täte. Die Wissenschaft macht Riesenschritte, die Forschung stößt in Gebiete vor, die bis vor kurzem noch absolut tabu waren. Früher oder später wird man sich auch an die Parthenogenese heranwagen. Warum dann nicht ich?«
Bernie sah den Freund mit scharfem Blick an. Sein Gesicht zeigte eine ungewöhnliche Intensität, die man beinahe als Verbissenheit hätte bezeichnen können. »Du behandelst das
Mädchen als medizinisches Kuriosum, Jonas. Aber sie ist deine Patientin. Du hast ihr gegenüber eine Verantwortung.«
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