Impulsiv griff Jonas zum Telefon. »Ich versuche jetzt noch einmal, deine Eltern zu erreichen, Mary.«

Im Wohnzimmer war es dunkel geworden. Keiner machte Licht. Ted McFarland saß mit gesenktem Kopf und fragte sich, ob er wirklich alles gesagt hatte. Das Schweigen schien ihm hohl und gespannt, als verlange es nach weiteren Worten. Aber es fielen ihm keine mehr ein.

Lucille, die tief in ihrem Sessel lag und zur schattendunklen Decke hinaufstarrte, hegte die bedrückende Befürchtung, daß zuviel gesagt worden war. Und doch war das eine, was Lucille am dringendsten hatte sagen wollen - es tut mir leid -, nicht ausgesprochen worden.

Mary spürte die Spannung, merkte, daß ihre Eltern mit ihren Emotionen zu kämpfen hatten. Ted, der mit hängendem Kopf und gefalteten Händen dasaß, schien zu beten, und Lucille, dachte Mary, sah aus wie die leidende Dienerin Gottes.

Es war so gut gegangen, wie zu erwarten gewesen war. Vielleicht sogar besser. Höflich und überaus dankbar waren sie in Dr. Wades Praxis erschienen, sehr darauf bedacht, ihm zu zeigen, daß sie es ihm nicht verübelten, daß er der einzige war, dem ihre Tochter Vertrauen schenkte. Sie hatten Platz genommen, und ein Weilchen hatten sie alle vier miteinander gesprochen, wenn auch mit einiger Verlegenheit. Dr. Wade hatte merkwürdig steif und gestelzt gewirkt, als fühle er sich gar nicht wohl und hätte das Verlangen, so schnell wie möglich zu gehen.

Zuerst hatten die drei Erwachsenen Mary zu überreden versucht, wieder ins St. Anne's zurückzukehren. Dann hatte ihr Dr. Wade einen Vortrag darüber gehalten, was eine schwangere Frau zu beachten, wie sie sich zu pflegen hatte, und ihr danach den nächsten Untersuchungstermin auf einen Zettel geschrieben.

Auf der Heimfahrt hatten Mary und ihre Eltern kaum miteinander gesprochen, aber sobald sie zu Hause gewesen waren, hatte Lucille gesagt: »Amy darf von alledem nichts erfahren.«

»Wie willst du es ihr denn verheimlichen?« fragte Mary.

»Wenn wir dich nicht wegschicken können, schicken wir eben deine Schwester weg. Heute übernachtet sie bei Melody. Bis morgen wird mir schon etwas einfallen.«

Mary wollte gerade Protest erheben, als ihr Vater ganz ruhig sagte: »Amy bleibt hier, Lucille. Sie muß es erfahren. Es ist an der Zeit, daß sie die Wahrheit erfährt.«

»Nein!« Lucille war entsetzt. »Nein, das lasse ich nicht zu. Sie ist noch zu klein. Das ist zuviel für sie.«

»Sie ist fast dreizehn Jahre alt, Lucille. Es kann ihr nur guttun, wenn sie Bescheid weiß.«

»Nein, sie soll unschuldig bleiben. Sie tritt nächstes Jahr in Schwester Agathas Orden ein -«

Ted schüttelte nur den Kopf, und Lucille gab auf.

Danach sprachen sie von anderen Dingen, von der Schule, von der Kirche, von all den Orten und Anlässen, wo Mary sich der Öffentlichkeit zeigen mußte. Mary, die über diese Fragen gar nicht weiter nachgedacht hatte, äußerte sich kaum dazu. Sie hatte nur gewußt, daß sie nach Hause wollte. Alles, was damit zusammenhing - der regelmäßige Kirchgang, die Fahrten mit ihrer Mutter zum Supermarkt -, wollte sie einfach von Tag zu Tag bewältigen.

Jetzt hatten sie sich alle leer geredet. Das Haus war dunkel und still. Mary stand auf. Ted hob den Kopf. Sie hatte den Eindruck, daß er zu lächeln versuchte.

»Ich geh in mein Zimmer«, sagte sie leise und nahm ihren Koffer.

Ted sprang sofort auf und packte den Koffer so beflissen wie ein Page, der auf ein Trinkgeld hofft.

Mary wandte sich Lucille zu. »Ich hab Hunger, Mutter. Was gibt's zum Abendessen?«

Sie telefonierte von der Küche aus. »Germaine? Ich bin's. Ich bin wieder zu Hause.«

Germaines Stimme, die so klar klang, als wäre die Freundin mit ihr in einem Zimmer, tröstete sie sofort.

»Mary? Du bist zu Hause? Wieso denn?«

Sie ist ganz nahe, dachte Mary und legte beide Hände fest um den Hörer. Das ist das Gute daran, zu Hause zu sein. Germaine ist in der Nähe. »Ich wollte nicht mehr bleiben. Ich bin heute nachmittag heimgekommen, und ich geh nicht wieder dahin zurück.«

»Ach, Mensch, toll! Dann kriegst du's hier, in Tarzana?«

»Ja. Ich will es haben, Germaine. Ich will mein Kind haben.«

Schweigen.

»Germaine?«

Eine leichte Veränderung in der Stimme. Vorsicht. »Und was sagen deine Eltern dazu?«

Mary sah sich in der Küche um. Das Geschirr war noch nicht gespült. Ein Teller mit kalten Spaghetti, die schon ganz verklebt waren, stand auf der Anrichte.

»Ich weiß nicht genau. Wir haben ein bißchen miteinander geredet, aber sie haben nicht viel gesagt. Beim Essen war's ziemlich peinlich, aber das wird schon wieder werden.«

»Ach, Mary, ich freu mich so, daß du wieder da bist. Ich war richtig einsam.«

»Germaine?«

»Ja?«

»Hast du Mike mal gesehen?«

Pause. »Nur zwei- oder dreimal in der Schule, Mary. Er hat Chemie und englische Literatur. Ich treffe ihn manchmal, wenn ich zu meinem Kurs über amerikanische Verfassung gehe.«

»Amerikanische Verfassung?«

»Das ist ein neuer Kurs. Im September nehme ich politische Wissenschaften, und da ist amerikanische Verfassung Voraussetzung. Häuptling Knopfnase gibt den Kurs.«

»Hat er was zu dir gesagt, Germaine? Über mich?«

»Die alte Knopfnase redet mit keinem ein privates Wort.«

»Germaine -«

»Nein, Mary, Mike hat nichts zu mir gesagt. Du weißt doch, er mag mich nicht.«

»Und die anderen?«

»Keine Ahnung, Mary. Marcie ist außer mir die einzige, die dieses Jahr Sommer kur se nimmt. Die anderen sind wahrscheinlich jeden Tag in Malibu.«

»Germaine, hat mal jemand gefragt -«

»Nicht direkt, aber sie sind bestimmt alle neugierig. Sheila Brabent hat mich vor zwei Wochen mal angerufen und gefragt, ob's stimmt. Ausgerechnet die.«

»Und was hast du gesagt?«

»Na ja, Mary, ich mußte >ja< sagen. Es stimmt ja, oder? Du bist schwanger, nicht?«

»Ja, es stimmt, aber .« Mary seufzte.

»Mary?«

»Ja?«

»Wann kommst du mal zu mir. Es ist verdammt langweilig ohne dich. Rudy ist nach Mississippi gefahren, zu einem Riesenprotestmarsch. Ohne euch beide bin ich total vereinsamt. Meine Mutter fragt, ob du nicht Lust hast, mal zum Essen zu kommen. Wann kannst du kommen?«

Mary fühlte sich etwas besser, nachdem sie aufgelegt hatte, aber nicht so viel besser, wie sie gehofft hatte. Sie mußte eben Geduld haben, dachte sie. Sie hatte ja noch fast fünf Monate, um sich an die neue Situation zu gewöhnen und Möglichkeiten zu finden, mit ihr fertig zu werden. Gott sei Dank, daß wenigstens Germaine sich wie immer verhielt.

Sie wählte die ersten drei Zahlen von Mikes Nummer und legte wieder auf. Noch nicht. Nicht gleich an ihrem ersten Abend zu Hause. Erst wollte sie sich wieder eingewöhnen, dann würde sie mit ihm reden und alles in Ordnung bringen.

Mary lehnte sich an die kühle Küchenwand und schloß die Augen. Vor zwei Monaten hatte sie genau an dieser selben Stelle eine Entscheidung getroffen, und es war die falsche gewesen. Sie drehte den Kopf und sah zum Telefon. Er hat mich vergessen, dachte sie.

Mike suchte im Dunklen nach dem Lichtschalter und drückte ihn herunter. Als das Licht aufflammte, schloß er geblendet die Augen und tappte blind zum Waschbecken. Das kalte

Wasser tat gut. Viel Seife. Er seifte sich bis zu den Ellbogen ein wie ein Chirurg vor der Operation, und dann spülte und spülte er und vermied es dabei die ganze Zeit, den Burschen im Spiegel anzusehen.

Als er fertig war und sich abtrocknete, dachte er mißmutig, Herrgott noch mal, was ist eigentlich in mich gefahren? Er hängte das Handtuch ordentlich wieder über den Halter und sah endlich in den Spiegel, um aufmerksam sein Gesicht zu mustern.

Weicher Flaum bedeckte seine Wangen, aber sein Kinn war immer noch so zart und glatt wie das eines Säuglings. Keine Spur von einem Bart. Er erinnerte sich an den Vortrag, den Bruder Nikodemus ihnen in der siebenten Klasse über die Sünde Onans gehalten hatte.

»Ein sicheres Zeichen dafür, daß jemand dieser Sünde frönt, ist, daß er sehr spät einen Bart bekommt, manchmal sogar überhaupt nicht. Das ist eine Tatsache, Jungen, da gibt's nichts zu grinsen. Die Selbstberührung führt zu einer unnatürlichen Freisetzung bestimmter chemischer Stoffe, die eigentlich der Anregung des Bartwuchses dienen sollten. Da könnt ihr jeden Arzt fragen. Die Selbstberührung ist eine Sünde und eine Beleidigung Gottes, die sich nicht verbergen läßt. Jeder kann euch deutlich vom Gesicht ablesen, ob ihr so etwas tut.«

»Ja, klar ...« murmelte Mike, während er sich mit der Hand über das Kinn strich. Die Jungen der St. Sebastian Schule hatten es damals nicht geglaubt und glaubten es auch jetzt nicht. Trotzdem, er würde sich viel mehr als Mann fühlen, wenn er endlich einen Bart bekäme.

Mike knipste das Licht aus und ging in sein Zimmer zurück. Zwei Dinge quälten ihn, als er sich wieder hinlegte, und nahmen ihm den Schlaf. Das eine war, daß er sich nachgege-ben hatte und nun morgen nicht zur Kommunion gehen konnte. Das andere war Mary.

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, versuchte er, wie er das jeden Abend tat, sich Mary vorzustellen. Und während er ihr Bild an die schwarze Zimmerdecke projizierte, bemühte er sich, wie er das ebenfalls jeden Abend tat, den Wirrwarr seiner Gefühle auseinanderzuzupfen, Ordnung zu schaffen, zu verstehen, was in ihm vorging. Am liebsten hätte er eine säuberliche Liste aufgestellt.

Er war zornig. Das lag auf der Hand. Aber auf wen? Auf Mary vielleicht. Auf sich selbst ganz sicher. Und am meisten auf den Kerl, der ihr das Kind gemacht hatte. Und er war unglücklich. Er hatte Sehnsucht nach ihr. Er hielt es kaum aus vor Sehnsucht. Andere Mädchen interessierten ihn nicht. Er gehörte zu Mary. Neugier. Warum hatte sie es getan und mit wem? Sexuelle Begierde. Er begehrte sie noch genauso heftig wie zuvor, verlangte nach der verbotenen Frucht, die nun in unerreichbare Ferne gerückt zu sein schien. Und etwas wie Scheu war da, vor Mary, der Schwangeren.