Während der Rosenkranz aus Perlmutt durch ihre Finger lief, bemühte Mary Ann McFarland sich nach Kräften um stille Andächtigkeit, aber sie fand sie nicht. Verstohlen hob sie den Blick und musterte die Leute in den Bänken. Mike war noch nicht gekommen.
Sie ließ ihre Augen wandern, bis sie schließlich zu Sebastian gelangten, drüben auf der anderen Seite des Schiffs, gleich bei der ersten Kreuzwegstation. Unfähig, den Blick von ihm zu wenden, starrte sie ihn an, von neuem gefesselt von diesem kraftvollen Körper, der sie in ihrem Traum so erregt hatte.
Das Gemälde des Heiligen, eine Kopie von Mantegnas »Sebastian«, das im Louvre hing, berührte einen beinahe peinlich in seiner Lebensechtheit. Das Blut war zu realistisch, die von Pfeilen durchbohrten Muskelschwellungen, der Schweiß auf der Stirn, die Qual in dem aufwärts gerichteten Gesicht - das alles war mit fotografischer Genauigkeit festgehalten. Mary hatte während manch langweiliger Predigt dieses Gemälde betrachtet, aber niemals war ihr bei ihren regelmäßigen Besuchen der katholischen Sebastianskirche auch nur der Hauch eines unzüchtigen Gedankens in Zusammenhang mit dem Heiligen gekommen. Jetzt aber, eben wegen ihres bestürzenden Traums, konnte Mary die Erotik des Gemäldes nicht mehr übersehen. Von den sehnigen Schenkeln ging etwas aus, das ihr nie zuvor aufgefallen war; das um die Lenden geschlungene Tuch schien ihr etwas Herausforderndes zu haben, genauso wie der im Schmerz gewundene Leib.
Sie erinnerte sich der heißen Gefühle, die sie im Traum überflutet hatten, an den herrlichen Moment der Ekstase, und fragte sich, ob so etwas ihr je wieder geschehen würde. Und sie dachte daran, daß sie nun vielleicht nicht mehr würdig war, die heilige Kommunion zu empfangen.
Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die Gemeinde auf. Mary faltete die Hände um ihren Rosenkranz und bat Gott, ihr den Traum zu vergeben und sie zu reinigen, damit sie reinen Gewissens zur heiligen Kommunion gehen könne.
Der würzige Duft des Dillhühnchens mischte sich mit dem scharfen Aroma des Chilisouffles. Lucille McFarland besuchte mit ihrer Freundin Shirley Thomas jeden Samstagmorgen einen Kurs für feine Kochkunst am Pierce College und ließ sonntags ihre Lieben in den Genuß ihrer neuerworbenen Künste kommen. Auch der Ostersonntag bildete da keine Ausnahme. Lucille und ihre beiden Töchter hatten den ganzen Nachmittag an die Vorbereitungen des Festmahls verwendet. Amy hatte Käse gerieben, bis ihr die Finger weh taten; Mary hatte Eier getrennt, die Auflaufform eingefettet und frischen Dill gehackt. Nun standen Schüsseln auf dem Tisch, jedes Gericht eine Überraschung, und die Familie setzte sich zum Essen.
»Igitt!« Amy, die Zwölfjährige, schnitt ein Gesicht. »Ich hasse Hühnchen total!«
»Halt den Mund und iß!« sagte Ted. »Davon wirst du groß und stark.«
Amy baumelte so heftig mit den Beinen, daß ihr ganzer Körper wippte. »Stellt euch mal vor! Schwester Agatha ist Vegetarierin. Sie kauft ihr ganzes Essen in einem Naturkostladen.«
Ted lächelte. »Da braucht sie sich wenigstens nie Gedanken zu machen, was sie freitags kochen soll. Komm, iß jetzt.«
Amy stocherte auf ihrem Teller herum, piekte ein Stück Chili auf und schob es in den Mund. »He, Mary«, sagte sie, »kennst du schon den neuesten Aufziehpuppen-Witz?«
Mary seufzte. »Nein, was für einen?«
»Es gibt eine neue Präsident-Kennedy-Puppe. Wenn man die aufzieht, rennt der Bruder fünfzig Meilen.« Amy warf den Kopf zurück und lachte. Doch von ihrem Vater erntete sie nur ein mißbilligendes Lächeln und von ihrer Mutter einen tadelnden Blick. Mary, die mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, reagierte überhaupt nicht.
»Oder den von der neuen Helen-Keller-Puppe?« fuhr Amy unerschüttert fort.
»Jetzt reicht es«, fuhr Lucille ihr in die Parade. »Ich weiß nicht, woher du deine Witze hast, aber ich finde sie reichlich geschmacklos.«
»Ach, Mama, in der Schule erzählen alle solche Witze.« Kopfschüttelnd murmelte Lucille etwas von öffentlichen Schulen und griff nach dem Souffle.
»Man zieht sie auf, und sie rennt gegen die Wand.«
»Jetzt reicht's aber wirklich!« Lucille schlug mit der Hand auf den Tisch. »Erst der Präsident und dann eine bedauernswerte Blinde. Das ist -«
»Lucille«, sagte Ted ruhig. »Zwölfjährige haben einfach einen anderen Humor. Das hat mit der Schule nichts zu tun.«
»He, Mary!« Amy warf ihre Gabel auf den Teller. »Wieso bist du eigentlich so still? Mike hat dich wohl heute nicht angerufen, hm?«
Mary richtete sich auf und sah ihre Schwester an. »Das hab ich gar nicht erwartet. Er hat mir erzählt, daß sie heute Besuch von Verwandten haben. Außerdem muß ich noch eine Arbeit fertig machen.«
Ted tupfte mit einem Stück Brot die Soße auf seinem Teller auf. »Ist das die, die du auf französisch schreiben mußt? Brauchst du Hilfe?«
»Nein, danke, Dad.«
»Ich nehme Spanisch«, verkündete Amy. »Schwester Agatha hat gesagt, man sollte eine Sprache lernen, die man gebrauchen kann. In Los Angeles sollte jeder spanisch sprechen.«
»Ich weiß«, sagte Mary. »Ich hab mir überlegt, ob ich nicht Suaheli lernen soll.«
»Wozu denn das?« Lucille zog die schmalen, gezupften Augenbrauen hoch.
»Ich gehe vielleicht zum Peace Corps.«
»Das ist ja was ganz Neues. Und was ist aus deinen Collegeplänen geworden?«
»Ich kann ja hinterher aufs College gehen. Beim Peace Corps sind es nur zwei Jahre. Ich würde gern nach Tanganjika gehen oder so was.«
Lucille strich sich automatisch eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht. Mary hatte jeden Monat neue Zukunftspläne und pflegte mit einer Begeisterung und einem Ernst darüber zu sprechen, die jeden Fremden von ihrer Zielstrebigkeit überzeugt hätte. Ihre Familie wußte es anders.
»Mach erst mal die Highschool fertig. Du hast noch ein ganzes Jahr vor dir.«
»Ein Jahr und acht Wochen.«
Lucille verdrehte die Augen zur Decke. »Eine Ewigkeit.«
Mary wandte sich ihrem Vater zu. »Du kannst das doch bestimmt verstehen, Dad, oder?«
Er schob seinen Teller weg und lächelte. »Ich dachte, du wolltest Modezeichnerin werden.«
»Und vorher Tänzerin«, warf Amy ein.
Mary zuckte nur die Achseln. »Das ist jetzt was ganz anderes.«
Während ihre beiden Töchter das Geschirr spülten, trat Lucille durch die Schiebetür von der Küche auf die Terrasse hinaus und blickte in die Dunkelheit, die den Garten mit Rasenflächen und alten Bäumen so dicht verhüllte, daß er grenzenlos schien. Im Lichtschein, der aus dem Eßzimmer fiel, war nur der vordere Teil des Schwimmbeckens zu sehen, weiß und ohne Wasser. Jenseits des Gartens, etwas oberhalb, auf einem grünbewachsenen Hügel, schimmerten die Lichter der nächsten Häuserzeile, und aus der Ferne war Gelächter zu hören.
Lucille drehte sich um und ging wieder ins Haus. »Hoffentlich kommt morgen endlich der Mann wegen des Schwimmbeckens«, sagte sie. »Es sieht so scheußlich aus, wenn es leer ist.«
»Zum Schwimmen ist es doch sowieso zu kalt, Mutter.«
»Das hat dich und Mike aber neulich abend nicht abgeschreckt. Und dabei hättest du dir beinahe noch den Tod geholt.«
»Das war doch nicht meine Schuld«, entgegnete Mary. »Ich konnte schließlich nichts für den Kurzschluß an der Beckenbeleuchtung.«
»Nein, natürlich nicht, aber ich habe einen wahnsinnigen Schrecken bekommen, als ich dich schreien hörte und sah, wie Mike dich aus dem Wasser zog.«
»Mir ist doch nichts passiert, Mutter. Es hat mich nur erschreckt.«
»Trotzdem.« Lucille packte die Reste des Hühnchens in Frischhaltefolie und legte es in den Kühlschrank. »Es war furchtbar. Ich habe einmal gelesen, daß in einem Hotelschwimmbecken eine Frau ums Leben kam, als es einen Kurzschluß gab. Das hätte wirklich schlimm ausgehen können, Mary Ann.«
Mary hängte das feuchte Geschirrtuch auf und erklärte, sie ginge gleich in ihr Zimmer.
»Schaust du dir nicht die Ed Sullivan Show mit uns an? Heute abend ist Judy Garland als Gast da.«
»Ich kann nicht, Mutter. Ich muß meine Arbeit diese Woche abgeben, und ich habe sie noch nicht getippt.«
Als sie hinausgehen wollte, legte Lucille ihr die Hand auf den Arm und hielt sie fest. »Geht es dir wirklich gut, Kind?« fragte sie leise.
Mary lächelte flüchtig und drückte ihrer Mutter die Hand. »Aber ja. Ich hab nur so viel im Kopf. Du weißt doch, wie das ist.«
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer machte Mary kurz halt, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, wo ihr Vater sich mit einem Glas Bourbon in der Hand auf dem Sofa niedergelassen hatte und am Fernseher herumschaltete.
Ted McFarland war ein gutaussehender Mann, mit seinen fünfundvierzig Jahren immer noch so schlank und elastisch wie in seiner Jugend. Morgens vor der Arbeit ging er regelmäßig schwimmen, und einmal in der Woche trainierte er in einem Fitneßklub. Das kurze, leicht wellige Haar war dunkelbraun und an den Schläfen schon leicht ergraut. Er hatte ein weiches Gesicht mit kleinen Lachfältchen um die Augen, die verrieten, daß er nicht zum Trübsinn neigte.
Mary liebte ihren Vater abgöttisch. Einen ernsthaften Krach hatte es nie zwischen ihnen gegeben, und er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Auch neulich abend, nach dem Schrecken im Schwimmbecken, als sie den elektrischen Schlag bekommen hatte, war er es gewesen, der sie in die Arme genommen und getröstet hatte.
»Ich geh jetzt in mein Zimmer, Dad«, sagte sie.
Er sah auf und schaltete automatisch den Ton des Fernsehapparats ab. »Kein Fernsehen heute abend? Ist die Arbeit so wichtig?«
»Ich muß sie tippen, wenn ich ein A, die Höchstnote, kriegen will.«
Er streckte lächelnd den Arm nach ihr aus. Sie ging zu ihm und setzte sich auf die Sofalehne neben ihn.
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