In dem kleinen Aufenthaltsraum, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch roch, war es einen Moment lang still. Dann fragte Ted leise: »Hat Mary mit Ihnen gesprochen, Dr. Wade?«

»Ja, aber was sie mir sagte, kann ich nicht weitergeben. Sie hat das gleiche Recht wie jeder Erwachsene darauf, daß ihre Mitteilungen im Rahmen des Arztgeheimnisses vertraulich behandelt werden. Eines kann ich und will ich jedoch sagen: Wir müssen rasch handeln.«

»Dr. Wade.« Lucilles Stimme war tonlos. Ihr Gesicht war sehr bleich. »Warum hat sie es getan?«

Er breitete die Hände aus. »Warum fragen Sie das nicht Ihre Tochter?«

Lucille schüttelte nur den Kopf.

»Ich verstehe nicht«, sagte Ted beinahe heftig, »wieso Mary sich Fremden öffnet, Leuten, die nicht zur Familie gehören, und sich weigert, mit uns zu sprechen. Vertraut sie uns denn nicht, Dr. Wade?«

»Mr. McFarland, Ihre Tochter klammert sich im Augenblick an jeden, der bereit ist, ihr zu glauben. Offenbar haben Sie und

Ihre Frau ihr deutlich gezeigt, daß Sie ihrer Behauptung keinen Glauben schenken, deshalb verweigert sie sich Ihnen.«

»Aber es ist doch ausgeschlossen, daß sie die Wahrheit sagt!«

Jonas Wade wiegte den Kopf hin und her. »Dieser Fall hat einige äußerst ungewöhnliche Aspekte. Die Hartnäckigkeit, mit der sie an ihrer Behauptung festhält .« Einen Augenblick lang erwog er, ihnen von seinem Verdacht und seinen Recherchen zu berichten, verwarf es aber wie zuvor bei Mary. Er wollte erst mit Dr. Henderson sprechen. »Außerdem kommt es nicht darauf an, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht. Der springende Punkt ist, daß sie selbst an ihre Unschuld glaubt, und Sie sich weigern, ihr zu glauben.«

»Kommt so etwas häufig vor?« fragte Pater Crispin.

»Höchst selten, Pater. Viele Mädchen behaupten, vergewaltigt worden zu sein, wenn sie nicht eingestehen wollen, daß sie sich auf intime Beziehungen eingelassen haben. Aber daß ein Mädchen beteuert, unberührt zu sein, obwohl an einer Schwangerschaft kein Zweifel besteht, kommt, wie gesagt, äußerst selten vor. In psychiatrischen Fachzeitschriften stößt man hin und wieder auf einen Bericht über einen solchen Fall; wo Frauen bis zur Entbindung und selbst danach noch behauptet haben, niemals mit einem Mann zusammen gewesen zu sein. Meistens sind das Fälle für den Psychiater.«

»Nein!« flüsterte Lucille. »Meine Tochter ist doch nicht verrückt.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, Mrs. McFarland. Im übrigen sollte das im Moment nicht unsere Hauptsorge sein. Die Realität sieht doch folgendermaßen aus, Mr. und Mrs. McFarland: Ihre minderjährige Tochter ist schwanger. Sie befindet sich in einem emotionalen Zustand höchster Labilität und braucht Schutz und Hilfe. Sie müssen nun entscheiden, was geschehen soll. Da Abtreibung gesetzlich verboten ist, und ich annehme, daß eine Heirat nicht in Frage kommt -« er machte eine kurze Pause, um ihre Gesichter zu mustern -»bleiben Ihnen nur zwei Möglichkeiten. Entweder Sie behalten Mary zu Hause, oder Sie geben sie fort, bis das Kind geboren ist.«

»Was soll das heißen?« fragte Ted erschrocken. »Sie weggeben?«

»Meiner Ansicht nach wäre es für Mary das Beste, wenn sie an einen Ort käme, wo sie unter ständiger Aufsicht und Fürsorge ist.«

Er beobachtete die drei Gesichter. Am längsten ruhte sein Blick auf dem Pater Crispins. Er konnte dem Mann ansehen, daß er äußerst erregt war, und er konnte sich auch denken, warum. Nach allem, was er gehört hatte, war Mary Ann McFarland das Muster einer guten Katholikin, hatte dem Gemeindegeistlichen stets getreulich alle ihre Sünden, auch die peinlichsten und geheimsten, gebeichtet. Und doch hatte sie diese eine zum Kummer des Priesters verschwiegen.

»Dr. Wade«, sagte Pater Crispin nach längerem Schweigen, »ich weiß nicht, wozu Sie Mr. und Mrs. McFarland raten werden, aber ich möchte doch sagen, daß mich diese Geschichte tief bestürzt und ich darum einen Vorschlag machen würde.«

»Gern, Pater. Ihr Beistand ist mir, wie ich schon sagte, sehr willkommen.«

»Gut«, sagte Pater Crispin, »dann würde ich folgendes vorschlagen.«

8

»Guten Tag, Dr. Wade. Ich bin Dorothy Henderson. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Jonas Wade nahm die dar gebotene Hand. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich die Zeit nehmen, Dr. Henderson.«

»Es ist mir ein Vergnügen. Bitte, kommen Sie.« Wades erster Gedanke war: gutaussehend. Dr. Dorothy Henderson war eine gutaussehende Frau. Als er ihr in ihr Labor folgte, ergänzte er sein Urteil: aristokratisch, eine königliche Hoheit im Exil. Stolz und gerade wie eine Prinzessin schritt sie vor ihm her. Ihr Gang war harmonisch und anmutig, ihre Gestalt schlank und von jugendlicher Beweglichkeit, obwohl sie gewiß keinen Tag jünger war als fünfzig. Das volle kastanienbraune Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem dicken Knoten geschlungen; eine Primaballerina, die ihren Höhepunkt überschritten hatte. Sie drehte sich um und sah ihn lächelnd an. Die grünen Augen blitzten lebhaft, die Haut ihres Gesichts war zart und hatte einen natürlichen rosigen Schimmer, aber sie war auch gezeichnet vom Leben - eine Schauspielerin, die den Glanz ihrer Karriere genossen hatte und nun ohne Groll dem Nachwuchs Platz machte. Ihre Stimme, als sie sprach, war überraschend kräftig und voll; diese Frau hatte niemals flüstern müssen - ein Opernstar, eine Politikerin im Licht der Öffentlichkeit. Man konnte sich Dorothy Henderson in allen möglichen Rollen vorstellen, fand Jonas, während sie ihm das Labor zeigte, nur nicht als Wissenschaftlerin.

»Hat Bernie Ihnen erklärt, was wir hier machen, Dr. Wade?«

»Nein, ich habe keine Ahnung.«

»Können Sie sich unter klonen etwas vorstellen?«

Er sah sich in dem kleinen Labor um, wo zwei Assistentinnen schweigend an ihren Tischen arbeiteten, musterte die Geräte, registrierte die durchdringenden, undefinierbaren Gerüche, hörte das Summen eines Inkubators und das leise, regelmäßige Ticken eines Spektrometers.

»Das Wort ist mir bekannt. Geht es dabei nicht um die Erschaffung von Leben im Reagenzglas?«

»Ich will es Ihnen zunächst einmal wörtlich übersetzen, Dr. Wade. Klon ist griechisch und bedeutet Menge oder Gedränge. Ein Klon ist eine große Gruppe eines Dings. Wir haben für unsere Zwecke die Bedeutung des Wortes ein wenig verzerrt. In der Wissenschaft sind Klone Gruppen erbgleicher Organismen, die durch ungeschlechtliche Fortpflanzung entstanden sind.«

Wades Blick fiel auf eine Reihe von Glaskästen, die in der Mitte des Raums standen. Sie waren mit Maschendrahtgittern zugedeckt und etwa fünf Zentimeter hoch mit trübem Wasser gefüllt, Kolonien von Fröschen tummelten sich in diesen Aquarien.

»Verkürzt gesagt, tun wir hier folgendes, Dr. Wade. Wir reproduzieren auf dem Weg der ungeschlechtlichen Fortpflanzung Generationen von Fröschen aus einem einzigen Elternfrosch. Das erreichen wir, indem wir den Kern einer differenzierten Zelle, die wir dem Körper eines Froschs entnommen haben, in das Zytoplasma eines Froscheis einpflanzen, das wir dann zum Wachstum bringen. Das Ergebnis ist dann ein ausgereiftes Duplikat des ersten Froschs.«

Sie ging ihm voraus durch das Labor wie ein Museumsführer, zeigte ihm Apparate und Geräte und erklärte Verfahrensweisen.

»Zuerst nehmen wir ein Froschei und zerstören mit einem winzigen ultravioletten Lichtstrahl den Zellkern. Mechanische Manipulation vertragen die zarten Eier der Froschart, mit der wir hier arbeiten, nicht. Das entkernte Ei kommt in einen Nährboden, dann entnehmen wir dem Darm einer Kaulquappe eine Spenderzelle -« Dorothy Henderson blieb hinter einer jungen Orientalin stehen, die konzentriert an einem Mikroskop arbeitete - »und injizieren ihren Kern in die entkernte Eizelle. Danach kommen die Eier, die in einer speziellen Nährlösung liegen, in den Inkubator.«

Sie führte ihn zu einem großen >Ofen<, hinter dessen verglasten Türen auf Regalen reihenweise flache Schalen standen.

»Wenn sie das Blastulastadium erreicht haben, werden sie in ein Milieu verpflanzt, in dem sie zu Kaulquappen heranreifen können.«

Sie blieb vor einem kleinen Wassertank stehen, wo die zweite Assistentin mit einer Spritze in der einen Hand und einem Stift in der anderen über einem Mikroskop saß; das Auge über dem Okular, machte sie sich immer wieder Aufzeichnungen.

»Alle Angehörigen eines bestimmten Klons«, erklärte Dorothy Henderson, »hören entweder zum exakt gleichen Zeitpunkt auf, sich zu entwickeln, weil genetische Defekte vorliegen, oder aber sie entwickeln sich alle normal und reifen zu Geschöpfen heran, die in Aussehen und Aufbau völlig identisch sind.«

Sie sah ihn lächelnd an und führte ihn weiter zu der Reihe Behälter in der Mitte des Raums. Jeder war mit einem Etikett versehen, und auf jedem Etikett stand Xenopus laevis, nur die römischen Zahlen hinter der lateinischen Gattungsbezeichnung unterschieden sich voneinander. In allen Behältern saßen ganze Klone von Fröschen; einzig im ersten mit der Aufschrift Xenopus laevis Primus befand sich nur ein Frosch.

»Das ist Primus«, sagte Dorothy Henderson und tippte mit dem Finger an das schmutzige Glas. »Er ist gewissermaßen der Urvater. Das hier -« sie wies auf die anderen Behälter -»sind alles nachfolgende Generationen, jede aus der vorhergehenden geklont. Und sie sind alle Kopien von Primus.«

Jonas beugte sich hinunter, um den Frosch zu besichtigen. Dann richtete er sich kopfschüttelnd wieder auf. »Er hat ja eine Riesenfamilie.«

»O nein, Dr. Wade, diese Frösche sind keine Nachkommen von Primus. Sie sind Primus.«

Er blickte in die kalten, starren Augen des Froschs. »Faszinierend.«