»Ja, Pater.«
Pater Crispin sah das Mädchen mit einem beruhigenden Lächeln an, aber in Wahrheit konnte er nicht begreifen, was hier geschehen war, und war tief beunruhigt. Mary Ann McFarland war in der Grundschule von St. Sebastian eine seiner besten Schülerinnen gewesen. Die Nonnen liebten sie. Sie war die aufgeweckteste und tatkräftigste unter den Mädchen, die zu seiner Jugendgruppe gehörten. Und die Sünden, die sie regelmäßig jeden Samstag beichtete, waren Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was er von den meisten anderen jungen Leuten zu hören bekam.
Aus drei Gründen war er beunruhigt: sie hatte die Sünde des Geschlechtsverkehrs nicht gebeichtet; sie hatte einen Selbstmordversuch gemacht; und als Schwangere hatte sie damit zugleich einen Mordversuch begangen.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.« Er griff in seine Tasche und zog einen langen schwarzen Rosenkranz heraus. Das silberne Kruzifix blitzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte. Er hielt den Rosenkranz vor ihr hoch und legte ihn ihr dann um die rechte Hand. »Von seiner Heiligkeit persönlich gesegnet.«
»Danke, Pater.«
»Möchtest du heute abend die heilige Kommunion nehmen?«
»Nein - Pater.«
Natürlich nicht, dachte er tief besorgt. Dann müßtest du ja vorher beichten, und du bist noch nicht bereit, dich mir anzuvertrauen.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu Ted auf. Zwischen den beiden Männern fand ein wortloser Austausch statt, dann wandte sich der Geistliche wieder Mary zu. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam nicht dazu. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür geöffnet, und Dr. Wade trat ins Zimmer.
»Guten Morgen«, sagte er, sich im Zimmer umsehend.
Marys Gesicht hellte sich auf, und sie versuchte erfolglos, sich etwas weiter aufzusetzen.
Als Pater Crispin aufstand, sagte Ted: »Dr. Wade, das ist Pater Crispin, unser Geistlicher.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Dann ging Jonas Wade um das Bett herum und beugte sich lächelnd über Mary.
»Und wie geht es meiner hübschesten Patientin heute?«
»Ganz gut.«
»Na, das wollen wir uns mal ansehen.«
Er drehte sich um und nickte den beiden Männern zu. Augenblicklich ging Ted zu Lucille und berührte leicht ihren Ellbogen. Wie im Traum drehte sie sich um und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen.
Germaine rutschte vom Bett und nahm ihre Tasche. »Ich muß los, Mary. Aber ich komm heute nachmittag noch mal.«
Jonas schloß die Tür hinter ihnen allen, dann kam er wieder ans Bett.
Mary sah lächelnd zu ihm auf. Er war nicht das, was man einen gutaussehenden Mann nennen würde, aber sein Gesicht, seine ganze Art hatte etwas, das Mary ansprach.
»Tja Mary, so trifft man sich wieder.« Er setzte sich auf den
Stuhl, den Pater Crispin zurückgelassen hatte und beugte sich vor. »Wie behandeln sie dich denn hier?«
»Gut.«
»Und wie geht es deinen Händen?« Er legte den Rosenkranz weg und nahm ihr linkes Handgelenk, drehte es um und begutachtete den Verband. Dann tat er das gleiche mit der rechten Hand. »Du warst wohl ziemlich außer dir, Mary, als du das tatest, nicht? Diese zweischneidigen Klingen sind gefährlich, wenn man nicht richtig mit ihnen umgeht. Sei froh, daß du keine Sehne erwischt hast.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete Mary. Sie erschien ihm viel kleiner und zarter, als er sie in Erinnerung hatte.
»Möchtest du mit mir darüber sprechen?« fragte er ruhig.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«
»Weißt du, warum du es getan hast?«
Sie wandte den Blick ab. »Ich glaub schon.«
»Dann sprechen wir darüber.«
Sie legte den Kopf in den Nacken und sah ihm ins Gesicht. »Mein Vater war nicht da. Und Mike -«
»Das ist dein Freund?«
»Ja. Wir sind seit einem Jahr zusammen. Wir wollten später mal heiraten. Er hat mir nicht geglaubt. Genau wie alle anderen.«
»Was meinst du, wenn du sagst, dein Vater war nicht da?«
»Na ja, ich wollte eben, daß er da ist, und er war nicht da.«
»Aber deine Mutter war doch da. Das sagte sie mir.«
»Ja ...«
»Aber du wolltest lieber mit deinem Vater sprechen?«
»Ja.«
»Wußtest du denn nicht, daß er im Büro war? Ich meine, wieso hast du erwartet, daß er zu Hause sein würde?«
Sie senkte die Lider. »Weil er gestern nicht im Büro war. Er war - er war weg und suchte -«
Jonas Wade runzelte die Stirn. »Was suchte er, Mary?«
»Er suchte jemanden, der eine Abtreibung machen kann«, flüsterte sie.
»Oh. Ich verstehe.«
»Darum hab ich's getan.«
»Hast du denn bei niemandem Hilfe gesucht?«
»Ich wollte keine Hilfe. Seit Sie meiner Mutter gesagt haben, daß ich ein Kind erwarte, ist alles ganz furchtbar. Alle sind unglücklich und total verstört. Sogar Pater Crispin. Er hat es nicht gesagt, aber ich hab's ihm angesehen. Alle sind meinetwegen unglücklich. Da dachte ich mir, sie würden alle froh sein, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Mary, Selbstmord ist nie eine Lösung. Du weißt doch, daß deine Eltern es nie verwinden würden, wenn du dir das Leben nehmen würdest.«
»Ach, ich weiß nicht -«
»Natürlich weißt du es. Vielleicht wolltest du sie bestrafen. Hast du daran einmal gedacht?«
Ihre Augen blitzten zornig. »Sie hätten es verdient, oder nicht? Sie glauben mir nicht, obwohl ich die Wahrheit sage. Sie behaupten, daß ich lüge, beschuldigen Mike, reden von Abtreibung. Das ist grauenhaft. Wieso finden sie überhaupt Abtreibung plötzlich in Ordnung?«
»Ich habe den Eindruck, du bist ziemlich zornig über diese ganze Sache.«
»Ich habe nichts Unrechtes getan, Dr. Wade, aber alle behandeln sie mich wie eine Verbrecherin. Schön, wenn sie mich nicht mögen und nicht mehr haben wollen - bitte sehr, das kann ich leicht arrangieren.«
»Mary! Hast du das alles auch deinen Eltern gesagt? Wissen sie, wie dir zumute ist?«
Sie drehte den Kopf wieder zur Seite. »Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
»Das ist keine Antwort.«
»Weil es ihnen sowieso egal ist.«
»Du scheinst zu glauben, daß es mir nicht egal ist.«
Sie riß ihren Kopf herum und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Ja«, antwortete sie heftig. »Das glaube ich. Ihnen bin ich nicht egal. Sie verstehen mich. Vorgestern abend, als meine Eltern zu Ihnen in die Praxis kamen, um mich zu holen, sagten Sie, sie glaubten nicht, daß ich lüge.«
»Das ist richtig, Mary«, sagte er. »Aber«, fügte er ernst hinzu, »daß heißt noch nicht, daß ich dir glaube. Es ist da ein Unterschied. Ich sagte nur, daß du meiner Ansicht nach selbst glaubst, was du sagst; aber ich wollte damit nicht sagen, daß es wahr sein muß.«
»Das spielt keine Rolle. Das Entscheidende ist doch, daß Sie mich nicht für eine Lügnerin halten, Dr. Wade. Sie glauben nicht, daß ich etwas Unrechtes getan habe.«
Jonas Wade hatte Mühe, seine Beunruhigung zu verbergen. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sah er in das junge hoffnungsvolle Gesicht und war einen Moment lang versucht, ihr von seinen Nachforschungen zu berichten. Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Es wäre leichtfertig gewesen, ihr schon jetzt etwas davon zu sagen. Er wollte wenigstens warten, bis er mit der Embryologin gesprochen hatte, die Bernie ihm empfohlen hatte.
»Dr. Wade«, sagte Mary leise, »wenn Sie der Ansicht sind, daß ich selbst es glaube, wenn ich sage, daß ich nicht mit einem Jungen geschlafen habe, glauben Sie dann auch, daß ich es wirklich nicht getan habe?«
»Unsere Psyche tut die komischsten Dinge, Mary. Vielleicht hast du etwas getan und erinnerst dich einfach nicht mehr daran.«
Sie schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. »Nein. Ich habe nie mit einem Jungen geschlafen.«
Pater Crispin und die McFarlands saßen draußen im Korridor. »Danke, daß Sie gewartet haben«, sagte Jonas Wade. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten. Pater Crispin, ich bin Ihnen für Ihren Beistand in dieser Angelegenheit dankbar.«
Er führte sie zum Ärztezimmer, und als alle sich gesetzt hatten, sagte er: »Mr. McFarland, Sie und Ihre Frau müssen jetzt eine wichtige Entscheidung treffen. Pater Crispin und ich sind gern bereit, Sie zu beraten, aber letztlich liegt die Entscheidung allein bei Ihnen.«
Ted, der Lucilles Hand umschlossen hielt, nickte nur.
»Bei einem Selbstmordversuch«, fuhr Jonas Wade fort, »insbesondere bei Minderjährigen, ist es meine Pflicht, der Polizei Meldung zu machen. Es geht dabei nicht um eine Strafverfolgung, sondern um den Schutz des Opfers. Minderjährige werden dabei in der Regel dem Gericht unterstellt, das dafür sorgt, daß sie aus den Verhältnissen herausgenommen werden, die sie zu dem Selbstmordversuch getrieben haben.«
Ted wollte etwas sagen, doch Jonas Wade hob abwehrend die Hand. »Bitte lassen Sie mich zu Ende sprechen. Es ist klar, daß jeder Fall anders liegt. Die Familienverhältnisse, die Lebensumstände, in denen das Kind sich befindet, unterscheiden sich von Fall zu Fall. Sehr häufig kommt einem Kind das Eingreifen der Behörden zugute. Beispielsweise wenn es aus einer unerträglichen häuslichen Situation herausgenommen wird.«
Ted spürte, wie Lucille ihm ihre Hand entzog. Er sah sie an. Ihr Blick war in konzentrierter Aufmerksamkeit auf den Arzt gerichtet.
»Ich bin mir jedoch nicht sicher«, fuhr Jonas Wade fort, »daß in Marys Fall eine behördliche Intervention wirklich in ihrem Interesse wäre. Ich meine, in Anbetracht dessen, was ich über ihr Zuhause und ihre tiefe Verbindung zur Kirche weiß. Ich fühle mich nicht verpflichtet, diesen Fall zu melden, wenn wir, die wir hier sitzen, gemeinsam eine angemessene und praktische Lösung finden können.«
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