Ihre Stimme war tonlos. »Du hast mir überhaupt nicht zugehört.« Ohne ein weiteres Wort legte sie auf.

Minutenlang blieb sie wie betäubt auf dem Boden hocken, ohne sich zu rühren, ohne einen Laut. Das Telefon läutete zwölfmal, aber sie hob nicht ab. Dann schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und begann zu weinen. »Daddy«, schluchzte sie immer wieder. »Daddy .«

Ted war überrascht, das Haus dunkel vorzufinden, als er nach Hause kam. Er blieb einen Moment lang verwundert stehen und blinzelte in die Dunkelheit, dann knipste er in der Diele das Licht an und ging müde ins Wohnzimmer.

Jetzt brauchte er erst einmal einen Whisky. Dann würde er nachsehen, wo der Rest der Familie war, und danach würde er vielleicht darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.

Als er noch dabei war, sich einzuschenken, hörte er plötzlich lautes Krachen und das Splittern von Glas. Er stellte Flasche und Glas nieder und stürzte hinaus. Der Flur war leer, aber unter der Tür zum Badezimmer der Mädchen schimmerte Licht. Ted rannte hin und legte das Ohr an die Tür. Nichts.

»Mary?« rief er. Alles blieb still. »Amy?« Noch immer rührte sich nichts.

Er versuchte den Türknopf zu drehen. Die Tür war abgeschlossen.

»Wer ist da drin? Antwortet! Mary? Amy?«

Er schlug mit beiden Fäusten an die Tür.

Die Tür des Schlafzimmers öffnete sich. Lucille kam schlaftrunken heraus. »Was ist das für ein Krach -«

»Mary!« Ted schlug fester an die Tür. »Mary! Mach auf!«

Lucille kam zu ihm. »Was ist denn los?«

Ohne sie zu beachten, ging er ein paar Schritte zurück, hob das rechte Bein und trat mit dem Fuß kräftig gegen die Tür. Ein schwarzer Abdruck blieb auf dem Weiß des Holzes zurück. Er trat noch einmal.

»Ted!« schrie Lucille.

Beim sechsten Tritt sprang die Tür auf. Ted stürzte ins Bad. Mary lag in einer Blutlache auf dem Boden. Im Waschbecken fanden sie eine Rasierklinge.

7

Am schlimmsten fand sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Ihre Mutter war wenigstens so rücksichtsvoll gewesen, zum Fenster zu gehen und zur Straße hinauszuschauen; aber Ted mußte am Bett sitzen und sie unablässig ansehen. Er erinnerte sie an einen Cockerspaniel.

Marys Arme lagen auf der Bettdecke. Beide Handgelenke und Hände waren verbunden; die Klinge hatte an ihren Fingern ebensoviel Schaden angerichtet wie an den Handgelenken.

Sie war am Abend zuvor auf der Unfallstation zu sich gekommen. Dr. Wade verband gerade ihr Handgelenk, als sie, vom grellen Licht geblendet, den Kopf auf die Seite drehte, seine vertraute Stimme hörte. »Es ist alles gut, Mary«, sagte er ruhig. »Du hast nicht viel Blut verloren. Du bist durch die psychische Belastung ohnmächtig geworden, nicht vom Blutverlust.«

Sie drehte den Kopf wieder zurück, um ihn ansehen zu können. Er lächelte beruhigend. Sie schloß die Augen und schlief wieder ein.

In der Nacht war sie erneut aufgewacht, allein in einem Privatzimmer, einen Plastikschlauch im Arm, der zu einer über ihr hängenden Flasche hinaufreichte. Sie hatte lange wach gelegen und sich zu erinnern versucht. Aber schließlich war sie doch wieder eingeschlafen.

Als sie am Morgen erwachte, war der Schlauch in ihrem Arm nicht mehr da. Eine freundliche Schwester war hereingekommen, hatte eine Schale mit warmem Wasser vor sie hingestellt und ihr behutsam das Gesicht gewaschen, ihre Zähne geputzt und dann ihr Haar gekämmt. Mary hatte das alles schweigend über sich ergehen lassen. Später war dieselbe Schwester mit dem Frühstück gekommen und hatte Mary geduldig gefüttert.

Und dann waren endlich ihre Eltern gekommen. In den Augen ihres Vaters sah sie so viel Verwirrung und Schmerz, daß sie es kaum über sich brachte, ihn anzusehen.

»Wir haben Amy gesagt, du hättest Blinddarmentzündung«, sagte er mit einem kummervollen Blick auf ihre verbundenen Hände. »Deine Mutter hat in der Schule angerufen und das gleiche gesagt. Sie schicken dir dein Zeugnis per Post.«

Sie hielt den Blick auf die in der Zimmerdecke verankerte Metallstange gerichtet, an der ein Vorhang herabhing, den man um das ganze Bett herumziehen konnte. Sie wünschte, sie könnte das jetzt tun. Sich von ihren Eltern abschirmen.

»Mary -«

»Ja, Daddy?«

»Mary, kannst du mich nicht ansehen?«

Sie zögerte einen Moment, dann drehte sie den Kopf und sah ihm ins Gesicht.

»Es tut mir so leid, Kätzchen«, sagte er.

»Mir auch, Daddy.«

»Mary.« Ted war sichtlich verlegen. »Mary, ich -«

Sie sah ihn ruhig an. »Daddy, ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich - ich hab's einfach getan.«

»Du hast uns schreckliche Angst gemacht.« Er hätte so gern ihre Hand gehalten. »Mary - Kind, warum bist du nicht zu uns gekommen? Wir sind doch deine Eltern. Du kannst immer

zu uns kommen.«

Ihre Augen waren stumpf und leblos.

»Ich danke Gott«, flüsterte er, »daß ich rechtzeitig nach Hause gekommen bin.«

Sie drehte den Kopf zur Seite. In die Stille des Zimmers drangen die alltäglichen Geräusche des Krankenhauses. Eilige Schritte im Korridor, das Klappern eines Wagens, der vorbeigeschoben wurde; die Stimme des Lautsprechers, über den einer der Ärzte ausgerufen wurde.

Dann klopfte es. Mary stockte das Herz. Wenn es Mike ist, werde ich - Germaine schaute zur Tür herein. »Mary?«

Ted sprang auf. »Dr. Wade hat jeden Besuch verboten.«

»Ja, ich weiß, Mr. McFarland.« Germaine kam ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Ich hab gesagt, ich wäre Marys Schwester. Mary? Ist es dir lieber, wenn ich wieder gehe?«

»Mary ist wirklich nicht in der Verfassung -«

»Ach, Daddy, laß doch. Ich bin froh, daß Germaine gekommen ist.«

Germaine kam ans Bett, sah mit einem Blick die bandagierten Hände. Sie legte ihre Tasche auf einen Stuhl und setzte sich zu Mary aufs Bett.

»Du warst heute morgen nicht an der Fahnenstange.«

Mary lächelte schwach. »Ich hatte was anderes zu tun.«

»Ja, das seh ich. Ich hab bei euch zu Hause angerufen, und Amy sagte, du hättest Blinddarmentzündung, und dein Vater hätte dich ins Encino Krankenhaus gefahren.« Germaine lächelte. »Ich sehe man hat dir den Blinddarm rausgenommen.«

Mary hob die Arme. »Beide.«

»Ach, Mensch, Mary .«

Ted ging ein paar Schritte vom Bett weg und sah ungläubig, wie seine Tochter in Gegenwart der Freundin lebendig wurde.

»Hast du's kurz nach meinem Anruf getan, Mary?«

»So ungefähr, ja.«

»Ach, Mann, warum hast du nichts gesagt? Ich hab gleich gefunden, daß du komisch klingst. Warum hast du nicht mit mir geredet, Mary? Ich bin doch deine beste Freundin.«

»Ich konnte nicht. Es ist alles so schwierig. Ich meine, warum ich es getan habe. Du weißt ja nicht, was -«

Sie begann zu weinen. Impulsiv neigte sich Germaine zu ihr hinunter und drückte ihre Wange an Marys. Ted wäre am liebsten dazwischengefahren, aber er hielt sich zurück. Bekümmert sah er zu, wie Mary, die ihm gegenüber so verschlossen geblieben war, der Freundin die Arme um den Hals legte. Er hörte sie leise miteinander sprechen, wobei Germaine zart Marys Stirn streichelte und ihre Wange küßte.

Nach einer Weile richtete sich Germaine auf, warf das lange Haar zurück und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

»Du hättest es mir doch sagen können, Mary. Du weißt, daß du mit mir über alles reden kannst. Ich hätte dir das schon ausgeredet. Nichts ist so schlimm, daß man deswegen gleich Schluß machen muß.«

»Ich weiß ja ... Ich versteh selbst nicht, warum ich dir nichts gesagt habe. Ich glaube, ich hatte einfach das Gefühl, daß die ganze Welt gegen mich war.«

Ted schluckte seinen Schmerz hinunter.

»Sie glauben mir alle nicht«, fuhr Mary fort. »Da dachte ich wohl, du würdest mir auch nicht glauben. Ich meine, was bedeutet schon mein Wort gegen das von zwei Ärzten.«

Germaine schwieg einen Moment nachdenklich. Dann sagte sie: »Ich kann nicht behaupten, daß ich das Ganze verstehe,

Mary, aber wer bin ich schon, daß ich sagen kann, was wahr ist und was nicht? Wenn du das glaubst, was du sagst, dann gilt es eben. Dann muß ich es auch glauben.«

Mary lächelte dankbar und berührte mit der verbundenen Hand Germaines Wange. Ehe sie etwas sagen konnte, klopfte es wieder an der Tür.

»Herrgott noch mal«, brummte Ted und ging hin, um aufzumachen. Als er Pater Crispin sah, trat er sofort zur Seite und hielt die Tür auf.

»Guten Morgen, Mr. McFarland.«

»Guten Morgen, Pater.«

Die Tür fiel langsam zu, während Pater Crispin, gefolgt von Ted, zum Bett trat. »Guten Morgen, Mary.«

Sie schien sich in die Kissen zurückzuziehen. »Guten Morgen, Pater.«

»Danke, daß Sie gekommen sind«, murmelte Ted. Er blickte zu Lucille hinüber. Sie schien die Ankunft des Priesters gar nicht wahrgenommen zu haben.

Pater Lionel Crispin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich, ein stattlicher, fünfzigjähriger Mann mit grauem Haar, das sich am Scheitel lichtete, so daß es aussah, als trüge er die Tonsur des Mönchs. Mit strengem Blick sah er zu Mary hinunter.

»Wie geht es dir heute morgen, Mary?«

»Ach, ganz gut, Pater.«

Er sah zu Germaine hinüber und schürzte leicht die Lippen. »Dein Vater hat mir alles erzählt, Mary. Ich kann nur sagen, ich wollte, du wärst gleich zu mir gekommen. Ich kenne dich seit deiner frühesten Kindheit, Mary. Ich habe dich getauft. Du weißt, daß du mir vertrauen kannst. Wenn du in Not bist, kannst du immer zu mir kommen.«

»Ja, Pater.«

Er beugte sich ein wenig vor und tätschelte leicht ihre verbundene Hand. »Denk daran, Kind, du bist nicht allein. Gott, unser Herr, steht zu dir, wenn du ihn nur darum bittest. Für Sünden kann man Buße tun. Das Leben kann einen neuen Anfang nehmen. Verstehst du, was ich sage, Mary?«