Sie runzelte die Stirn. Was würde zu sehen sein? Unter ihren Händen lag ein Geheimnis, und gleich, welcher Art es war, Mary hätte damit am liebsten nichts zu tun gehabt. Dr. Wade mußte sich getäuscht haben. Nichts wuchs da in ihrem Bauch.

Sie senkte die Hände und richtete ihren Blick auf ihr Gesicht. Was ging mit ihr vor? Woher kam die morgendliche Übelkeit? Woher das unerklärliche Anschwellen ihrer Brüste? Zwei Ärzte behaupteten, eine Schwangerschaft sei die Ursache, aber Mary wußte, daß das unmöglich war.

Sie bemühte sich, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie über solche Dinge wußte. Vielleicht sollte sie einmal mit Germaine reden. Germaine hatte Erfahrung; ihr Freund, der Student, war zwanzig und hatte Germaine Liberalität gelehrt; sie redeten dauernd von Revolution und freier Liebe. Aber Mary hatte Schwierigkeit, mit anderen über Sexualität oder die eigene Körperlichkeit zu sprechen. So nahe sie und Germaine einander standen, so viele Geheimnisse sie miteinander teilten, diese Themen waren stillschweigend tabuisiert worden zwischen ihnen.

Darum suchte Mary jetzt in ihrem eigenen begrenzten Wissen nach der wahren Ursache dessen, was mit ihr vorging. Und etwas fiel ihr ein. Ihre Periode. Wann hatte sie das letz-temal ihre Periode gehabt? Es war lange her ...

Neue Schritte im Flur lenkten Mary ab. Dann hörte sie die Stimmen ihrer Eltern.

»Du meinst, wir sollten zu einem Psychiater gehen?« fragte Lucille, die, den Kopf in die Hand gestützt, an ihrem Toilettentisch saß. »Ich weiß nicht, Ted. Davon halte ich nicht viel.«

»Ich denke, es wäre zu ihrem Besten«, sagte Ted müde.

Lucille starrte in den Spiegel über dem Toilettentisch und sah eine Fremde darin. »Weißt du, woran mich das erinnert, Ted?« fragte sie leise, eigentlich mehr zu sich selbst sprechend als zu ihrem Mann. »An Rosemary Franchimoni.«

»Lucille, laß das jetzt -«

»Ich habe lange mit Rosemary Franchimoni gesprochen«, fuhr sie fort. »Kurz vor ihrem Tod - du weißt doch, im Krankenhaus. Und sie sagte mir, daß sie das Kind von Anfang an nicht haben wollte. Ted, sie wollte das Kind überhaupt nicht. Sie sagte mir, sie hätte Angst, weil der Arzt ihr dringend von einer weiteren Schwangerschaft abgeraten hatte.«

Lucille beobachtete die Bewegungen ihrer Lippen. Hinter ihr stand Ted reglos in der Mitte des Zimmers.

»Es war gemein, Ted. Ungerecht. Kein Mensch hat Rosemary Franchimoni gefragt, was sie wollte ...« Lucille schluckte. »Es ist nicht Marys Schuld, Ted. Es ist die Schuld des Jungen. Ich weiß doch, wie Männer einen zwingen, indem sie behaupten, es sei ihr gutes Recht. Und Frauen müssen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, ich hab damit heute keine Probleme mehr. Ich kann eigentlich von Glück sagen. Mir kann nichts passieren, seit ich operiert bin -«

»Lucille, bitte -«

»Aber was wäre, wenn ich nicht operiert worden wäre? Was wäre, wenn dauernd die Gefahr einer Schwangerschaft über uns hinge? Und wenn ich dann vielleicht daran sterben würde.« Im Spiegel trafen sich ihre Blicke. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Lucille beinahe kalt.

Er sah sie nur stumm an.

Sie stand auf und drehte sich um. »Du mußt jemanden suchen, Ted. Du mußt deiner Tochter diese Schande ersparen.«

Er brauchte einen Moment, ehe er begriff, was sie meinte. Ungläubig starrte er sie an. »Was hast du da gesagt?«

»Du weißt genau, was ich gesagt habe. Du mußt jemanden ausfindig machen, zu dem Mary gehen kann. Damit sie dieses

- dieses Ding los wird.«

»Nein. Das tue ich nicht!«

»Du mußt. Du kannst doch nicht tatenlos zuschauen, wie sie sich ihr Leben verpfuscht. Du mußt deine Tochter schützen, Ted. Such jemanden und geh mit ihr hin.«

»Aber das kann ich nicht. Ich meine -« Er wandte sich von ihr ab und sah sich um, als suche er einen Fluchtweg. »Ich hab doch keine Ahnung von diesen Dingen. Ich habe nie von so einer Person gehört. Ich wußte gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Dann sag Nathan Holland, er soll sich drum kümmern. Wir wissen beide, daß sein Sohn ihr das angetan hat.«

»Nathan .« Ted rieb sich die Stirn.

»Geh zu ihm und rede mit ihm. Sag ihm, daß er verantwortlich ist. Sag ihm, was sein Sohn unserer Tochter angetan hat. Ted!« Lucille wurde lauter. »Sie soll nicht mit dieser gräßlichen Belastung durchs Leben gehen müssen. Dieses Ding muß verschwinden. Weg damit!«

»Mein Gott -«

»Ted, du mußt es für mich tun. Für uns!« Sie streckte den Arm nach ihm aus, aber er wich zurück. »Ich werde nicht zulassen, daß sie diese Schande ertragen muß. Diese Qual. Sie soll das nicht erfahren. Du bist ihr Vater, Ted. Tu etwas!«

Er drehte sich langsam um und sah sie mit tiefer Trauer an. Dann nickte er. »Nathan. Ja ... Er muß es erfahren ...« Mehr wußte er nicht zu sagen.

Den nackten Rücken an ihre Zimmertür gepreßt, starrte Mary mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit um sich herum. Sie hatte jedes Wort des Gesprächs im Schlafzimmer ihrer Eltern gehört. Wie gejagt stürzte sie zu ihrem Schreibtisch und riß eine Schublade auf, nahm ihr altes Tagebuch heraus und trug es ins Licht. Sie hatte schon seit Jahren nichts mehr hineingeschrieben, weil sie es eines Tages kindisch gefunden hatte.

Jetzt setzte sie sich an ihrem Schreibtisch nieder und blätterte durch die Seiten, auf denen sie fast zwei Jahre lang tägliche Begebenheiten, ihre Schwärmereien, Wünsche und Träume als Zwölf- und Dreizehnjährige aufgeschrieben hatte, bis zum letzten beschriebenen Blatt.

Auf die leere Seite, die darauf folgte, schrieb sie: »Ich bin unberührt, und keiner glaubt mir. Am liebsten möchte ich sterben.«

6


»... immer noch steigt aus der Sixtinischen Kapelle schwarzer Rauch auf zum Zeichen, daß noch immer kein Nachfolger für Papst Johannes XXIII. gekürt worden ist. Ein Sprecher des Kardinalskollegiums sagte heute morgen -«

Ted schaltete das Radio aus, als er das Haus Nathan Hollands vor sich auftauchen sah. Es stand auf einer Anhöhe unter Palmen und Sykomoren. Ted steuerte den Lincoln die steile Auffahrt hinauf und schaltete den Motor aus, noch ehe der Wagen ganz zum Stillstand gekommen war.

Nathan Hollands Haus war eines der schönsten im Viertel. Als leitender Angestellter einer großen Versicherungsgesellschaft konnte er sich das Personal leisten, das nötig war, um Haus und Garten das ganze Jahr über tadellos instand zu halten.

Ted war der Mann sympathisch. Näher gekommen waren sie sich erst, seit Mary sich im vergangenen Sommer mit Mike angefreundet hatte. Seither waren er und Lucille mehrmals bei Nat zum Abendessen eingeladen gewesen und im Dezember zu einer Weihnachtsparty. Es war bewundernswert, dachte Ted, wie Nat es schaffte, seine drei Söhne großzuziehen, das große Haus in Ordnung zu halten und dabei noch seiner anspruchsvollen Stellung bei der Versicherungsgesellschaft gerecht zu werden.

Geistesabwesend starrte Ted auf die sauber gestutzte Hecke, die das Grundstück umgrenzte. Lucille hatte heute morgen nicht ein einziges Wort gesprochen. Stöhnend war sie beim Rasseln des Weckers auf gestanden, ins Bad gegangen und hatte erst einmal vier Aspirin geschluckt. Später hatte sie wortlos Kaffee gemacht und eine Platte mit Toast und Schinken hingestellt, die keiner anrührte. Sie hatte sehr schlecht ausgesehen, das Gesicht eingefallen und fahl, die Augen von dunklen Ringen umschattet. Auch als Ted ihr seine Absicht mitgeteilt hatte, Nathan Holland aufzusuchen, hatte sie mit keinem Wort reagiert.

Ted fühlte sich kaum besser als Lucille. Er hatte so starke Kopfschmerzen wie schon lange nicht mehr, sein ganzes Leben erschien ihm plötzlich sinnlos und verfehlt.

Er legte einen Moment den Kopf aufs Steuerrad und erinnerte sich mit einem scharfen Stich des Schuldbewußtseins an den vergangenen Abend. Lucille war schon eingeschlafen gewesen, als das Telefon geläutet hatte. Es war Amy gewesen, die wissen wollte, ob etwas passiert sei. Der Firmunterricht war schon seit einer halben Stunde aus, und Mama war immer noch nicht gekommen, um sie abzuholen.

Ted hob den Kopf vom Steuerrad und kniff die Augen zu. Amy, wir haben dich vollkommen vergessen ...

Der ganze Abend war so schrecklich und unwirklich gewesen, wie ein böser Traum. Er wünschte, er hätte ihn einfach vergessen können. Aber er wußte auch, daß im Erinnern das

Gefühl war, und das Gefühl gab ihm den Willen und die Kraft weiterzumachen. Er mußte mit Nathan Holland sprechen. Das war der einzige logische nächste Schritt. Vielleicht würden sie gemeinsam eine Lösung finden.

Als sich die Haustür plötzlich öffnete, fuhr Ted zusammen. Er zog den Zündschlüssel ab und sprang aus dem Wagen.

»Hallo, Nat.« Er winkte kurz.

Nat lachte. »Ich dachte doch, ich hätte Sie vorfahren gehört. Kommen Sie rein.«

Ted hatte Nat gleich nach dem Aufstehen angerufen, um diesen Termin mit ihm zu vereinbaren. Als Nat vorgeschlagen hatte, er solle zu ihm ins Büro kommen, hatte Ted erklärt, er zöge es vor, mit ihm allein zu sein. Daraufhin hatten sie ausgemacht, daß sie sich um elf bei Nat treffen würden.

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte Ted nach der Begrüßung.

»Aber das ist doch selbstverständlich.« Nat schloß die Haustür und ging seinem Gast ins kühle Wohnzimmer voraus. »Ich war heute morgen schon im Büro und nehme mir jetzt eine lange Mittagspause. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Ja, gern. Sind die Jungen zu Hause?«

Nat, der schon auf dem Weg zur Küche war, drehte sich kurz um. »Mike und Matt sind in der Schule, aber heute ist früher Schluß, weil morgen der letzte Schultag ist. Ich denke, die beiden werden gegen Mittag heimkommen.«