»Wie sieht's bei höheren Tieren aus?«
»Laß mich überlegen. Soviel ich weiß, gibt's eine bestimmte Art Truthühner, wo Parthenogenese künstlich herbeigeführt wird. Zu Zuchtzwecken, glaube ich -«
»Künstliche Parthenogenese interessiert mich nicht, Bernie, ich rede von spontaner Parthenogenese.«
»Die gibt's nur bei den niederen Tieren, Jonas.«
»Nicht bei Säugetieren?«
»Nein, ich hab jedenfalls nie davon gehört, daß sie da spontan auftritt.« Er riß plötzlich die kleinen dunklen Augen auf.
»Moment mal, du glaubst doch nicht etwa, daß dieses Mädchen -«
»Ich habe irgendwo mal was von Experimenten mit vaterlosen Mäusen gehört oder gelesen. Weißt du darüber was?«
»Vaterlose Mäuse ...« Bernie krauste die Stirn. »Das liegt einige Zeit zurück, Jonas. Außerdem war's da nicht spontan, sondern künstlich, im Labor erzeugt.« Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Die Parthenogenese bei Säugetieren ist ein Thema, das hin und wieder mal angerührt wird, ohne daß man ihm ernste Beachtung schenkt. Herrgott, wo hab ich da nur neulich was gelesen? In einer meiner Zeitschriften - es ging da um eine bestimmte Art von Truthühnern .«
»Dann erzähl mir von den Truthühnern.«
»Warte, da muß ich erst mal überlegen. Es war in Maryland, in einem Ort namens Beltville. Ein Truthahnzüchter bemerkte, daß in einer großen Zahl unbefruchteter Eier ganz von selbst embryonisches Wachstum begann. Bei vielen hörte die Entwicklung allerdings auf, ehe das Embryo voll ausgebildet war, aber ich glaube, bei jedem sechsten Ei kam es zur völligen Reifung, und es schlüpfte eine Truthenne aus. Danach experimentierte man herum, indem man die parthenogenetischen Truthennen - also die, die aus unbefruchteten Eiern entstanden waren - mit Hähnen paarte, deren weibliche Sprößlinge parthenogenetische Eier hervorgebracht hatten. Und bald hatten die Züchter Tiere, die Eier legten, die nicht mehr befruchtet werden mußten.«
»Mir ist schleierhaft, wie das möglich sein soll.«
Bernie zuckte die Achseln. »Soviel ich weiß, hatten sämtliche parthenogenetische Tiere in ihren Körperzellen den doppelten Chromosomensatz.«
»Wie kann das sein?«
»Offenbar haben sich die Chromosomen des unbefruchteten Eis einfach verdoppelt.«
Jonas schüttelte den Kopf. »Weiß man, wodurch die Entwicklung eines Embryos ohne Befruchtung hervorgerufen wurde?«
Bernie überlegte einen Moment. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Aber ich glaube, sie sind nicht dahintergekommen, wie das geschah.« Er trank den Rest seines Whiskys aus. »Es gibt auf diesem Gebiet kaum Daten, Jonas. Frag den Mann auf der Straße, und er wird dir nicht mal sagen können, was man unter Parthenogenese versteht. Vor ein paar Jahren gab es ziemlich Wirbel durch diese Spurway-Geschichte, und ein paar Monate lang schauten sämtliche Genetiker der Welt gespannt nach London, aber inzwischen hat sich das alles wieder gelegt.«
Jonas schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Genau! Das ist es! Spurway! Dr. Helen Spurway.« Er sprang auf und ging zum Bücherregal. »Über die Frau hab ich doch was gelesen . . .«
»Das ist acht Jahre her, Jonas. Das war neunzehnhundertfünfundfünfzig.«
»Verdammt.« Jonas trommelte mit den Fingern auf einen Stapel medizinischer Fachzeitschriften, während er im Geist die Termine für den nächsten Tag durchging. Sprechstunde von 10 bis 12, nachmittags keine Patienten. Da konnte er sich in die Bibliothek der medizinischen Fakultät an der Uni setzen.
»Jonas«, sagte Bernie ruhig. »Möchtest du immer noch meine Meinung hören?«
»Natürlich.«
»Schick sie zum Psychiater.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, sagte Jonas seufzend.
»Ich habe das heute nachmittag schon ihren Eltern empfohlen, die allerdings nicht gerade begeistert waren. Die Mutter ist der Überzeugung, daß sie bei ihrem Priester am besten aufgehoben sind.«
»O wei!«
»Ich weiß gar nicht, ob sie da so unrecht hat, Bernie. Wie dem auch sei, wenn sie mich noch einmal um meine Meinung fragen, werde ich auf psychiatrische Behandlung dringen. Und inzwischen werd ich mal festzustellen versuchen, was es mit diesen Truthühnern auf sich hat.«
5
Jetzt hätte er eigentlich schon dort sein müssen. Er wünschte, er wäre es.
Ted McFarland, der mit einem doppelten Scotch im Wohnzimmer saß und auf den toten Bildschirm des Fernsehapparats starrte, wünschte aus tiefstem Herzen, dies könnte ein normaler Mittwoch sein. Sein Trainingsabend. Gerade jetzt hätte er die Entspannung dringend gebraucht.
Aber er konnte natürlich nicht weggehen. Nicht unter diesen Umständen. Jemand mußte gewissermaßen die Festung halten; jemand mußte stark sein, sich wenigstens stark zeigen.
Aber wer brauchte ihn denn überhaupt?
Amy war im Firmunterricht, Mary hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sprach mit niemandem, und Lucille ...
Aus dem Nebenzimmer hörte Ted ab und zu das Klirren der Whiskyflasche, wenn sie ihr Glas neu füllte.
Lucilles anfänglicher Zorn auf Mary war zu Bekümmerung und dann zu Enttäuschung dahingeschmolzen; jetzt suchte sie verzweifelt einen Weg, um wieder Zugang zu ihrer Tochter zu finden, um von ihr zu erfahren, was sie tun wollte, um zu fragen, warum sie das getan hatte, die ganze Familie enttäuscht und blamiert hatte. Aber Ted wußte, womit Lucille sich in Wirklichkeit herumschlug: mit plötzlichen schmerzlichen Erinnerungen an die Vergangenheit.
Gegen einen überstürzten Besuch bei Pater Crispin, wie Lucille ihn gewollt hatte, nachdem sie Dr. Wades Praxis verlassen hatten, hatte er sein Veto eingelegt. Ein solches Gespräch war seiner Meinung nach verfrüht und hätte zu nichts geführt. Zumal Lucille getrunken hatte. Und Mary war im Augenblick nur verstockt, nicht bereit, mit irgendeinem Menschen offen zu sprechen. Aber morgen, ja, morgen ganz bestimmt. Pater Crispin würde wissen, was zu tun war.
Ted McFarland liebte seine älteste Tochter abgöttisch. Der Grund für diese beinahe krankhafte Liebe war kein Geheimnis: Ted, der seine Mutter nie gekannt hatte und in einem Jungenheim aufgewachsen war, hatte das Weibliche in seiner Umgebung heftig vermißt und immer von einer Schwester oder einer Tochter geträumt. Als Lucille in den Wehen gelegen hatte, hatte Ted in der Kirche gekniet und um eine Tochter gebetet.
Auch über Amys Geburt war er glücklich gewesen, aber Mary war die Erstgeborene, Mary war sein ganzer Stolz, der Sinn seines Lebens. Ihre grazile junge Schönheit entzückte ihn, und er hatte es nie wie andere Väter bedauert, sie vom Kind zur jungen Frau heranwachsen zu sehen.
Aber jetzt - er starrte blind vor sich hin -, das war viel zu schnell gegangen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, sie schwanger zu sehen, den jungen schönen Körper aufgeschwollen im formlosen Umstandskleid. Nichts würde bleiben von ihrer Anmut und Geschmeidigkeit. Es war wie die Schändung eines Tempels, häßlich und gemein. Ted krümmte sich plötzlich zusammen und drückte die Arme in seinen Magen, als hätte er einen Tritt erhalten.
Mary, Mary, schrie es qualvoll in ihm. Meine schöne Mary. Was habe ich falsch gemacht?
Sie stand vor dem hohen Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür angebracht war, und betrachtete ihren nackten Körper. Im weichen Licht der Schreibtischlampe, die sie auf sich gerichtet hatte, starrte sie wie gebannt in den Spiegel.
Es war das erste Mal, daß sie ihren nackten Körper bewußt wahrnahm. Im Badezimmer, wenn sie duschte oder ein Bad nahm, erhaschte sie immer nur einen flüchtigen Blick auf ihre nackten Schultern im beschlagenen Glas; und wenn sie sich hier in ihrem Zimmer an- oder auskleidete, wandte sie dem Spiegel unwillkürlich stets den Rücken zu. Sie hatte kaum je eine nackte Frau zu Gesicht bekommen. Ihre Mutter hatte ihr eigenes Bad und Ankleidezimmer neben dem elterlichen Schlafzimmer, und wenn Amy das Bad benützte, das sie sich mit ihrer Schwester teilte, sperrte sie immer ab.
Fasziniert stand sie jetzt vor dem Spiegel und musterte kühn ihre nackte Gestalt. Sie war verlegen dabei, schämte sich, hatte das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun; sie fühlte sich unbehaglich unter der Musterung ihrer eigenen Blicke.
Aber sie mußte hinsehen, sie mußte es wissen. War wirklich etwas verändert?
Die Schultern waren dieselben, gerade und kantig, wie die einer Schwimmerin; die Arme langgliedrig und kraftvoll; die
Hüften sanft gerundet unter der schmalen Taille; die Schenkel nicht zu fleischig - fest und straff; die langen Beine glatt und wohlgeformt. Die Haut war leicht gebräunt; nirgends ein Makel; matt glänzend im Spiel von Licht und Dunkel.
Ihr Blick blieb auf ihren Brüsten haften. Sie starrte auf die Brustwarzen. Sie erschienen ihr dunkler, ein wenig größer als vorher. Und die Brüste selbst - war es ihre Einbildung, oder waren sie tatsächlich größer geworden?
Zögernd hob Mary eine Hand, umschloß behutsam eine Brust und drückte leicht. Es tat weh.
Sie senkte den Arm wieder, konnte sich aber noch immer nicht vom Spiegel abwenden. Sie hatte das Gefühl, eine fremde Frau zu betrachten, mit ihrem forschenden Blick das Schamgefühl dieser Frau zu verletzen. Gleichzeitig aber fühlte sie sich so distanziert und unpersönlich, als inspiziere sie ein Standbild.
Aus dem Flur hörte sie gedämpfte Schritte und hielt einen Moment den Atem an, um zu lauschen. Vor ihrer Zimmertür hielten die Schritte an, aber nur einen Moment. Dann verklangen sie in Richtung zum Schlafzimmer der Eltern.
Mary atmete auf und setzte die Erkundung ihres Körpers fort. Als ihr Blick ihren Bauch erreichte, hob sie beide Hände und legte sie auf die kühle Haut unterhalb ihres Nabels. Sie drückte leicht, als wolle sie ergründen, was unter der Trennwand aus Fleisch und Muskeln verborgen war. Ihr Bauch war flach und straff. Aber was hatte Dr. Wade gesagt? »Es wird bald zu sehen sein ...«
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