Einen Tequila-Sunrise in der Hand, von dem er hin und wieder trank, stand Jonas Wade am Fenster des Wohnzimmers und beobachtete eine Gruppe junger Leute, die sich draußen am Schwimmbecken tummelte. Aus der Küche zogen die Düfte des Abendessens herein, und ab und zu konnte er durch das Glas das Kreischen der jungen Leute hören, die sich gegenseitig ins Wasser stießen.

Aber das alles nahm er nur am Rande wahr. Seit er Mary Ann McFarland ihren erregten Eltern übergeben hatte, wollte ihm das Mädchen nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte ähnliche Szenen schon mehrmals im Lauf seiner ärztlichen Praxis erlebt: verzweifelte junge Dinger und aufgeregte Eltern. Doch diesmal war es ein wenig anders gewesen - zwar war Mary Ann verzweifelt gewesen, doch sie hatte nicht aufgehört, ihre Unschuld zu beteuern.

Während Jonas Wade geistesabwesend dem ausgelassenen Treiben seiner beiden Kinder mit ihren Freunden zusah, meldete sich wieder die Erinnerung an den Bericht, der ihm am Ende seines Gesprächs mit der kleinen McFarland plötzlich eingefallen war. Wo hatte er ihn nur gelesen? Und wann? Er hatte ihn damals nur flüchtig überflogen und sogleich wieder vergessen. Nur die Ähnlichkeit der jetzigen Situation mit der geschilderten hatte die Erinnerung wachgerufen. In England. Eine Ärztin, die den Beteuerungen der Frau geglaubt hatte, hatte sich mit dem Fall befaßt. Hatte Untersuchungen angestellt, die interessante Daten zutage gefördert hatten. Aber wie hatte der Befund schließlich ausgesehen?

Penny eilte ins Wohnzimmer. Er hörte das Klappern ihrer Absätze auf dem Parkettboden und sah sie, als sie an ihm vorbeilief - klein, zierlich und beweglich, in Shorts und einem trägerlosen Oberteil, das schwarze Haar noch in dicken Wicklern.

»Das Essen ist in zehn Minuten fertig«, rief sie ihm zu. »Ruf die Kinder rein, ja?«

Jonas trank den letzten Schluck seines Cocktails und ging zur Terrassentür. Die drückende Hitze schlug ihm ins Gesicht, als er sie aufzog, und die Gerüche von jungen Eukalyptusblät-tern, faulenden Früchten, welkem Gras und Staub stieg ihm in die Nase. Einen Moment tat es ihm leid, die jungen Leute vom heiteren Spiel in Sonne und Wasser wegholen und in das von der Klimaanlage kalte Haus rufen zu müssen. Er betrachtete die schlanken, braungebrannten Körper, die in der Sonne glänzten; zwei Mädchen und zwei junge Männer, sprühend vor Lebenslust.

»Hallo, Kinder!« rief er laut.

Sie verstummten und drehten sich nach ihm um; die achtzehnjährige Cortney, zum Sprung bereit auf dem Drei-MeterBrett; ihre Freundin Sarah Long, die am Beckenrand saß; der neunzehnjährige Brad und sein Freund Tom im Wasser.

»Das Essen ist gleich fertig. Zieht euch was an!«

Er kehrte ins Haus zurück, hörte das Klatschen des Wassers, als Cortney hineinsprang, dann lautes Gelächter. Er zog die Tür hinter sich zu und ging zur Bar, um sich noch einen Drink zu machen. Lächelnd nickte er der geschäftig vorbeieilenden Carmelita zu; sie war eine gute Haushälterin, auch wenn sie kaum ein Wort englisch sprach. Sie war fleißig und immer freundlich. Und einmal in der Woche servierte sie den Wades enchiladas und tostadas, wie sie nur südlich der Grenze zu bekommen waren.

Mit dem Glas in der Hand ging er zu seinem Arbeitszimmer. Drinnen blieb er unschlüssig stehen. Er wußte gar nicht, was er hier wollte. Sein Blick fiel auf die nagelneue Urkunde, die auf seinem Schreibtisch lag; eine große Ehre, auf ein weiteres Jahr zum Präsidenten der Galen-Gesellschaft gewählt worden zu sein. Als er die Urkunde am vergangenen Samstag erhalten hatte, auf der Junisitzung der elitären Vereinigung, die insgesamt nur zwanzig Mitglieder hatte, war er sehr stolz gewesen und im ersten Moment sprachlos vor Freude. Aber schon einen Tag später war das Hochgefühl stark abgeflaut. Schließlich war er eines der Gründungsmitglieder der GalenGesellschaft, er hatte angeregt, die Mitgliederzahl auf zwanzig zu beschränken und nur die angesehensten Ärzte aufzunehmen. Na schön, dann hatten sie ihn eben wieder zum Präsidenten gewählt - aber war das so umwerfend?

Jonas hörte nur mit halbem Ohr das Geschrei der jungen Leute, die jetzt vom Garten ins Haus stürmten. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Zeitschrift er über diesen Fall in England gelesen hatte. Er trat zu dem breiten Wandregal und musterte erst die Bücher, dann die Stapel von Fachzeitschriften, und während er jeden einzelnen Titel las, öffnete sich eine Tür in seinem Gedächtnis, und ein paar zusätzliche Details aus dem Artikel, von dem er nicht mehr wußte, wo und wann er erschienen war, drängten hervor.

In London. Eine unverheiratete Frau brachte eine Tochter zur Welt. Sie schwor Stein und Bein, niemals mit einem Mann zusammengewesen zu sein. Ihre Ärzte lachten sie aus. Aber eine Genetikerin - wie hieß sie nur? - hatte den Fall aufgegriffen. Hatte an dem Kind verschiedene Untersuchungen vorgenommen. Hautverpflanzungen. Einige primitive und zuverlässige Chromosomentests. Und der Befund -

Jonas schloß die Augen. Wie hatte der Befund ausgesehen?

»Jonas?«

Er fuhr herum.

Penny stand lächelnd an der Tür, das Haar jetzt ausgekämmt und perfekt toupiert. »Das Essen steht auf dem Tisch.« Und schon war sie wieder verschwunden.

Jonas blieb noch einen Moment vor dem Bücherregal stehen, dann griff er zum Telefon auf seinem Schreibtisch. Es war die Frage, ob Bernie überhaupt zu Hause war.

Bernie war zu Hause gewesen und hatte versprochen, nach dem Essen vorbeizukommen. Auch bei Steak und Avocadosalat ging Jonas die kleine McFarland nicht aus dem Kopf. Nachdem er seinen Freund angerufen hatte, einen Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hatte er noch einmal versucht, sich zu erinnern, wo er den Artikel über den Fall in England gelesen hatte und war dann sehr zerstreut zu Tisch gegangen.

Um das Tischgespräch brauchte er sich nicht zu kümmern. Seine Kinder und ihre beiden Freunde sorgten mit einer Diskussion darüber, welchen Film man sich am Abend ansehen sollte, für Unterhaltung und Lebhaftigkeit.

Als Carmelita die gezuckerten Erdbeeren auftrug, riß Jonas sich aus seinen Gedanken und bemühte sich bewußt, seiner Umgebung etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Liebevoll betrachtete er Cortney, jugendliches Abbild ihrer Mutter. Er verglich sich mit Ted McFarland, der vor wenigen Stunden aschgrau und niedergeschlagen in seiner Praxis gesessen hatte, und dankte seinem Schöpfer, daß sie mit Cortney niemals ernste Schwierigkeiten gehabt hatten. Vor drei Jahren, als sie fünfzehn gewesen war, hatte sie eine kurze Phase der Rebellion durchgemacht und war mit einer Clique ziemlich übler Altersgenossen herumgezogen. Lederjacken, aufgemotzte alte Autos, dröhnende Musik und freche Widerreden. Aber Jonas hatte sie kurzerhand die Schule wechseln lassen, und das hatte gewirkt. Jetzt studierte sie Theaterwissenschaften und brachte die besten Noten nach Hause. Nicht mehr lange, dann würde sie heiraten - einen netten jungen Mann wie Brads Freund Tom, der Betriebswirtschaft studierte und ganz sicher seinen Weg machen würde und der unverkennbar in Cortney verliebt war. Und Brad würde zielstrebig sein Jurastudium beenden, eine Anwaltskanzlei aufmachen, eine Frau wie Cortney heiraten und sich hier im San Fernando Tal niederlassen. Jonas und Penny würden endlich das Haus für sich haben, und das Leben würde in Ruhe und Behaglichkeit seinen Lauf nehmen.

Jonas starrte auf seine Erdbeeren hinunter. Seinen langweiligen Lauf, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren.

Bernie kam, als Carmelita das Geschirr spülte und Penny sich zurückgezogen hatte. Die jungen Leute waren schon abgefahren. Jonas und sein Freund konnten ungestört und in Ruhe reden.

Nachdem Jonas zwei Drinks gemacht hatte, setzten sich die beiden Männer in sein Arbeitszimmer mit den bequemen Ledersesseln, und Jonas kam ohne Umschweife zur Sache.

Bernie Schwartz, Genetiker an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, ein untersetzter Mann von scharfer Intelligenz, hörte sich den Bericht seines Freundes mit wachem Interesse an. Jonas und Bernie verband nicht nur die alte Freundschaft aus der Studienzeit; sie fühlten sich vor allem durch ihr Interesse an der Wissenschaft und dem Vergnügen an einer guten Debatte miteinander verbunden. Vor einigen Jahren hatte Jonas sich nach Kräften bemüht, den Freund in die Galen-Gesellschaft hineinzubringen, doch das Gründungsgesetz, an dem er selbst mitgewirkt hatte und das bestimmte, daß nur praktizierende Ärzte in die Vereinigung aufgenommen werden sollten, hatte das verhindert. Aus diesem Grund hielten sie wöchentlich bei ein paar Drinks ihre privaten kleinen Diskussionen über wissenschaftliche Themen, die ihnen am Herzen lagen.

Als Jonas nun seinen kurzen Bericht über Mary McFarland mit der Frage abschloß, was Bernie von der Sache halte, erwiderte dieser: »Ich? Meine Meinung willst du wissen? Du bist doch der Arzt, Jonas. Ich bin nur ein kleiner Feld-Wald-und-Wiesen-Genetiker.«

»Sag mir trotzdem deine Meinung.«

»Okay, entweder sie lügt, um den Knaben zu schützen, oder sie hat die Geschichte wirklich vergessen. Ich würde sagen, schick sie zum Psychiater.«

Jonas schwieg einen Moment, dann sagte er unvermittelt: »Bernie, was kannst du mir über Parthenogenese sagen?«

»Parthenogenese? Jungfernzeugung? Fortpflanzung durch eine Eizelle, die nicht durch einen männlichen Samen befruchtet worden ist. Warum fragst du?«

»Ich weiß, was das Wort bedeutet, Bernie. Ich wollte von dir wissen, wo und wie dieses Phänomen in der Natur vorkommt.«

»Du meinst wohl bei Tieren im Gegensatz zu Pflanzen. Hm .« Er zog die fleischigen, breiten Schultern hoch. »Soweit ich mich erinnere, kommt es bei manchen niederen Tieren vor, bei Guppies zum Beispiel, und dann gibt's noch eine Eidechsenart, die rein weiblich ist und sich auf dem Weg der Parthenogenese fortpflanzt. Möglicherweise gibt's auch bestimmte Frösche .«