»Ja, für den Gatten, den die kluge Jungfrau mit ihrer Lampe in der Hand erwartet. Das paßt auf mich.«
Sie spürte einen jähen, durchdringenden Schmerz, während sie dachte; »Der Gatte! ... Ich habe ihn gekannt. Er erfüllte mich, aber man hat ihn aus meinen Armen gerissen.«
»Ihr müßt Eure Blicke in die Zukunft richten. Sucht den zu erkennen, der kommen wird. Und bereitet Euch darauf vor, ihn zu empfangen. Seid Ihr denn entschlossen, die Schande Eurer Sünden unaufhörlich in Eurer Seele zu bewahren? Nein. Bringt also auch für Euren Körper nicht mehr Stolz auf. Er ist weniger wert. Ihr dürft die Erinnerung seiner Schmach nicht kultivieren. Nach dem Winter kehrt immer der Frühling wieder. Blut und Fleisch erneuern sich. Eure Gesundheit scheint gut .«
Daß er es wagte, zu ihr so offen von dem geheimen Leid zu sprechen, das sie verzehrte, genierte und tröstete sie zugleich.
»Es wird nicht leicht sein«, sagte sie. »Man merkt, daß Ihr nie in einer solchen Lage .«
»Starrkopf! ... Lernt, Euch von dem abzuwenden, was Euch Böses getan hat. Seht, die Sonne scheint zum erstenmal seit vielen Tagen. Nehmt die Hand Eures Kindes, geht im Garten spazieren und denkt dabei über Eure Hoffnungen nach.«
Sie war sich durchaus nicht sicher, ob sie sich jene Zukunft wünschen sollte, die er ihr ausgemalt hatte.
Gab es auf der Welt einen Mann, der imstande war, sie von neuem zu zähmen? Die Wunde saß zu tief. Wenn sie jedoch dem Instinkt nachgrübelte, der sie veranlaßt hatte, ihr nach Trost dürstendes Herz dem Abbé von Nieul zu öffnen, mußte sie sich eingestehen, daß mancherlei in ihr nachzugeben begann. Er hatte sie mit der Geduld eines Vogelfängers zu sich gelockt. Aber der Zauber seiner männlichen, durch Bußübungen verzehrten Persönlichkeit hatte gleichfalls eine gewisse Rolle gespielt. Ja, er hatte recht. Wie sehr sie doch Frau geblieben war! ...
»Was ist in der Abtei mit mir geschehen?« fragte sie sich. »Manchmal ist mir, als hätte ich mich verloren, als schwebte ich in der Luft.«
»Ihr seid in etwas hineingeschleudert worden, was die Mathematiker den »Durchgang durchs Unendli-che< nennen.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Wenn man die mathematischen Wissenschaften studiert, lernt man, daß nicht alle Lösungen eines Problems notwendigerweise berechenbar sind, das heißt sich eine aus der anderen ableiten und durch ein positives Resultat ausdrücken lassen. Ein paar einfache Beispiele: wir wissen nicht, ob die Lösung einer mathematischen Gleichung plus oder minus ist. Andersherum gesagt: ob man gewonnen oder verloren hat.
Schon das einfache Ausziehen der Quadratwurzel schafft ein philosophisches Problem von beträchtlicher, unberechenbarer Tragweite: Was kann die Wurzel einer negativen Zahl sein? Gegen den Schwindel, der uns angesichts der Unfaßbarkeit packt, sichern wir uns durch die Erklärung, daß sie imaginär oder eine trigonometrische Linie sei. Damit geben wir zu, daß wir nicht mehr wissen, was geschieht, denn es bedeutet, daß wir auf eine andere Ebene physischer Struktur übergegangen sind. Zur größeren Bequemlichkeit des Geistes wird man sagen, daß wir eine Unterbrechung des Zusammenhangs< oder einen »Durchgang durchs Unendliche< passiert haben. Versteht Ihr mich?«
»Ich glaube zu verstehen. Ich verspüre selbst dieses vorübergehende Verschwinden des Problems.«
»Welch tiefer Abgrund ist dieses Unendliche schon im Bereich der reinen Mathematik. Aber auch in unserem täglichen Leben ist es allgegenwärtig. Sobald unser Geist keine klare Lösung mehr sieht, drängt sie der Durchgang durchs Unendliche oder Irrationelle oder Übersinnliche wie von selbst auf. Wir tauchen aus ihm auf, um wieder unserer gewöhnlichen Bahn zu folgen, aber die Lösung ist in der Tat schon gefunden worden.«
»Werde ich trotz allem wieder Fuß fassen können? So viele Widersprüche machen sich mein Dasein streitig.«
»Ihr gehört zu jenen Frauen, die den Kampf brauchen, um sich erfüllt zu fühlen und um - o ja, so etwas gibt es! - jung und schön zu bleiben. Wärt Ihr mit einem alltäglichen Leben zufrieden, eine Stickerei in den Händen, oder gar mit einer frivolen Existenz?«
»Ich weiß es nicht mehr. Manchmal war mir, als sei ich für ein einfaches, bäuerisches Glück geschaffen: einen Mann zum Lieben, Kinder um einen Tisch herum, für die ich Backwerk kneten würde ... Alle Frauen bewahren dieses Bild in einem Winkel ihres Herzens, selbst die verkommensten, selbst die mondänsten. Und gleichfalls wie jede Frau hoffte ich, Reichtümer zu gewinnen, der Genüsse wegen, die sie verschaffen: Schmuck, Brokat, Pelze, die Bewunderung der Männer . Aber sehr schnell wurde mir klar, daß ich dabei weder glücklich war noch mich wohl fühlte. Es paßte nicht zu mir, während ich die Rolle, die ich während des Aufstands spielte, leidenschaftlich liebte. Ihr werdet mir sagen, es sei nicht Sache der Frau, Blut zu vergießen, es sei gegen die Natur. Aber ich liebe den Kampf. Ich würde lügen, wenn ich es zu verschleiern versuchte. Das Abenteuer, das Warten auf den Sieg, das Zusammenraffen zerstreuter Kräfte, um ihnen ein Ziel zu geben, ja, selbst die Unruhe, die Angst, die Hoffnung, eine verzweifelte Situation in letzter Minute zu retten - all das gefiel mir. Ich habe während der beiden hinter mir liegenden Jahre gelitten, aber ich habe mich nie gelangweilt.«
»Man sagt ja, daß es für den Mann - und mehr noch für die Frau - eine der wesentlichsten Voraussetzungen des Glückes sei, sich nicht zu langweilen.«
»Ihr nehmt also an meinen Geständnissen keinen Anstoß? Wie erklärt Ihr diese Widersprüche?«
»Ein menschliches Wesen ist vieler Dinge fähig. Sie bilden das Gewebe seines Lebens, in dem sich Böses und Gutes, Auflehnung und Unterwerfung, Sanftmut und Gewalt verknüpfen.«
Er murmelte: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben ... vernichten und heilen ...
weinen und lachen, klagen und tanzen ... herzen und ferne sein von Herzen ... schweigen und reden, hassen und lieben .«
»Wer hat das gesagt?«
»Einer der großen Weisen der Bibel. Der Prediger Salomo.«
»Es hätte also nicht nur schmutzige und abscheuliche Dinge in meiner Auflehnung gegeben?«
»Gewiß nicht.«
Angéliques Antlitz leuchtete auf.
»Eure Nachsicht ist tröstlicher als Eure Strenge. Ihr seid anfangs hart zu mir gewesen .«
»Ich wollte Euch Angst machen, um Euch vor dem Untergang zu bewahren. Ich wollte Euch auch zum Sprechen bringen, und ich beglückwünsche mich, daß es mir gelang. Das verriegelte Herz verdirbt.«
Das Kinn in die Hand gestützt, sann er lange nach, wie an ein schwer zu lösendes Problem verloren.
»Ihr müßt diese Erde verlassen«, sagte er endlich.
»Wollt Ihr damit sagen, daß ich sterben muß?« schrie sie entsetzt auf.
»Nein, hundertmal nein, liebe Seele. Ihr, die ihr das Leben selbst seid! ... Ich wollte sagen: dieses Land verlassen, das Land Eurer Kindheit und auch . dieses Königreich, in dem ein Preis auf Euren Kopf gesetzt ist. Diese gequälte Welt verlassen, der es durch ihre noch junge christliche Kultur bisher nicht gelungen ist, sich aus dem ersten Konflikt zu lösen: Gott und Satan. Ihr seid nicht für solche mystischen Auseinandersetzungen geboren. Ihr seid der Natur zu nah. Eure Rechtlichkeit, Eure Neigung zum Ausgleich finden keine Befriedigung in extremen, in gewissem Grade antinatürlichen Gefühlen. Die Werte, die Euch wichtig sind, liegen auf einer anderen Ebene, und Ihr werdet darum immer mit denen, die Euch umgeben, uneins sein. Ihr seid ein wenig wie jene erste Frau, die Gott erschuf und die sich vor den Früchten des Gartens Eden aufs höchste verwunderte ... Ihr müßt fort.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Schafft eine neue, irdischere, duldsamere Welt .« Er hob die Augen zum Fenster.
»Der Schnee ist verschwunden, die Sonne strahlt. Der Frühling ist gekommen. Habt Ihr es bemerkt?«
Das Blau des Himmels füllte den Ausschnitt des römischen Bogens, und auf dem Fensterbrett gurrten zwei Tauben.
»Ich habe Nachrichten eingezogen. Die Soldaten haben das Poitou verlassen. Das Land ist ruhig, wenn auch noch nicht befriedet. Ihr könnt ohne Schwierigkeiten durchs Moor Maillezais und von dort aus die Küste erreichen. Habt Ihr Komplicen, zu denen Ihr Euch gesellen könnt?«
»Wollt Ihr sagen, daß ich fortgehen muß?« hauchte sie.
»Die Zeit ist gekommen.«
Sie sah die feindselige Welt vor sich, die sie jenseits der Pforte der Abtei erwartete, in der sie sich einsam und von lauernden Blicken verfolgt mit ihrem Bastardkind in den Armen würde durchschlagen müssen.
Dicht vor ihm sank sie auf die Knie: »Schickt mich nicht fort. Hier fühle ich mich wohl. Hier ist Gottes Asyl.«
»Die ganze Welt ist Gottes Asyl für diejenigen, die an seine Barmherzigkeit glauben.«
Sie schloß die Augen, und durch ihre langen Wimpern quollen Tränen, die glänzende Spuren über ihre Wangen zogen. Er sah sie vom schwarzen Hof des Unglücks umgeben. Sie war noch nicht außer Gefahr, aber die Gewißheit, daß der Sieg ihr gegeben würde, schien bereits durch. Er war es ihr schuldig, sie wieder in den Wind der Welt zurückzustoßen.
Er streckte den Arm aus, und sie fühlte auf ihrem Haar die unendlich sanfte Berührung seiner Asketenhand.
»Mut, liebe Seele. Gott segne Euch.«
Am folgenden Tage trat der Bruder Pförtner bei ihr ein. Wie sie es sich gewünscht hatte, war ihr ein Maultier gesattelt worden, das sie durch Vermittlung der Mönche von Maillezais zurückschicken würde. Er hatte das Tier mit zwei Körben beladen, die Nahrungsmittel und eine Decke enthielten. Angélique hüllte den Kopf ihrer Tochter sorgfältig in eine Kapuze. Wenn sie schon nicht die Farbe ihrer eigenen Augen verbergen konnte, wollte sie wenigstens die des Haars ihrer Tochter verstecken; sie wußte sehr wohl, daß sie ihren Verfolgern als Frau mit grünen Augen beschrieben worden war, die in ihren Armen ein rothaariges Kind trage. Es war ihr Pech, daß sich auch Honorine durch eine auffallende Besonderheit auszeichnete.
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