Als sie unbeweglich stehenblieb, drangen die erstickten Töne einer Glocke an ihr Ohr. Das rhythmische Anschlagen versprach ihr Asyl.

Von wilder Hoffnung erfüllt, begann sie vorsichtig den Abhang hinunterzuklettern, und bald erkannte sie, dunkler noch als die Nacht, die hohen Mauern der Abtei von Nieul. Sie zerrte an der Kette des Portals. Dem eisigen, ausweglosen Alptraum entronnen, fühlte sie sich im Schutz der Tornische bereits halb geborgen.

Eine Hand schob den Schieber des Gucklochs beiseite, eine Stimme sagte:

»Gelobt sei Gott! Was wünscht Ihr?«

»Ich habe mich mit meinem Kind im Wald verirrt.

Gewährt mir Asyl.«

»Wir beherbergen keine Frauen in der Abtei. Wenn Ihr fünfzig Schritt weitergeht, findet Ihr ein Wirtshaus, in dem man Euch aufnehmen wird.«

»Nein ... ich werde von Soldaten verfolgt. Nur Eure Mauern können mich schützen.«

»Geht zum Wirtshaus«, wiederholte die Stimme.

Der Unsichtbare schien das Guckloch schließen zu wollen. Verzweifelt schrie sie auf:

»Ich bin die Schwester Eures Benefizianten Albert de Sancé de Monteloup. öffnet mir, um Gottes willen ... öffnet mir!«

Der Pförtner zögerte, dann schloß sich der Schieber. Gleich darauf hörte sie Schlüssel klirren und das Knirschen schwerer Riegel. Sie warf sich in den sich öffnenden Spalt wie ein menschliches Abbild des Unwetters, dessen Schneegewirbel hinter ihr zurückblieb.

Zwei kleine weißhaarige Mönche betrachteten sie mit verdutzten Mienen.

»Schließt diese Tür«, flehte sie, »schließt sie fest und öffnet vor allem nicht, wenn Soldaten Einlaß begehren.«

Sie gehorchten, und Angélique atmete auf, als der große hölzerne Balken quer vor den Türflügeln lag.

»Haben wir recht verstanden, daß Ihr die Schwester des Benefizianten der Abtei, Monsieur de Sancés, seid?« fragte einer der Mönche.

»Ja, es ist wahr.«

»Wartet dort«, sagte er, auf die Tür eines niedrigen Raumes weisend, in dem eine große Kerze in einem kupfernen Wandleuchter brannte. Unter der steinernen Wölbung war es kaum weniger kalt als draußen.

Angélique zitterte vor Kälte und Erschöpfung an allen Gliedern. Ihre erstarrten Arme, mit denen sie die wimmernde Honorine umfing, spürte sie nicht mehr.

Endlich bemerkte sie die Gestalten zweier anderer Mönche, die sich vom Kloster her näherten. Einer von ihnen hielt eine Öllampe. Sie trugen die den Oberen vorbehaltenen weißen Kutten. Sie betraten den Raum und blieben vor ihr stehen. Der Jüngere trat noch näher heran, während er die Lampe hob, um das erbarmungswürdige Gesicht der Besucherin besser erkennen zu können.

»Ja, sie ist es«, sagte er schließlich. »Es ist meine Schwester Angélique de Sancé ...«

Die Glocke des Portals wurde stürmisch gezogen, und der Bruder Pförtner erschien, um zu melden, daß eine Schar bewaffneter Männer Einlaß in die Abtei begehre.