Sie fühlte sich seltsam ruhig und vermochte sogar ein paar Stunden traumlos zu schlafen. Seit langer Zeit schon hatte sie aufgehört, sich mit Gedanken über ihre Vergangenheit zu beschweren, über das, was hätte sein können oder nicht hätte sein dürfen, und über die Fülle der dramatischen Geschehnisse, mit denen sie in ihrem verhältnismäßig kurzen Dasein schon fertiggeworden war. Sie war für diese Sorgen und Dramen selbst verantwortlich. Sie hatte gegen die Gesetze und alles, was man ihr sonst beigebracht hatte, leben wollen. Hatte ihr erster Mann das gleiche Verbrechen nicht teuer bezahlen müssen? Weit entfernt, daraus eine Lehre zu ziehen, war sie auf dem Wege des Widerstands gegen die herrschenden Mächte weitergegangen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber, ihnen zum Opfer gefallen zu sein, wie sie es so lange getan hatte. Der Kampf ums Dasein war ihr zur zweiten Natur geworden, und aus der privile-gierten, nach Gesetzen und Regeln geordneten Welt war sie in die der wilden Tiere hinabgestiegen, die täglich ihr Leben verteidigen und tausend Gefahren abwehren mußten.
Gegen Mitternacht erwachte sie und bemerkte den Holzschuhmacher, der durch das schmale Fenster spähte. Sie trat hinter ihn und entdeckte in der Lichtung unruhig umherstreichende Wölfe. Der größte von ihnen hob den spitzen Kopf und heulte mehrere Male. Die Ziege im Stall zerrte an ihrer Kette und blökte.
Angélique legte sich wieder neben Honorine nieder. Mit leichten Fingern ordnete sie die roten Löckchen, die in die Stirn der Kleinen fielen, und betrachtete das Gesicht der friedlich Schlummernden. Die Unheil kündende Bedeutung des heulenden Wolfs bestätigte die Ahnungen ihres Herzens. »Das ist der Anfang vom Ende«, sagte sie sich.
Am Morgen hatte es geschneit. Eine leichte, pulvrige Schneedecke verhüllte die Umgebung, die ersten zagen Frühlingshoffnungen zunichte machend. Das geschundene Land weigerte sich, zum Leben zu erwachen.
Vergebens suchte Angélique in der Hütte nach einem Stück Papier und einer Feder. Schließlich nahm sie einen Fetzen Tuch und schrieb mit einem Stück Holzkohle darauf. Mehr Geduld erforderte es, dem Sohn des Holzschuhmachers begreiflich zu machen, wo sich die Meierei der Fayets befand, zu der er sich begeben sollte.
Endlich schlurfte der Junge durch den Schnee davon, die Botschaft an die Brust drückend, durch die Angélique den Abbé de Lesdiguière über ihren Aufenthaltsort unterrichten wollte.
Erst am folgenden Tag kehrte er zurück. Durch Zeichen gab er ihr zu verstehen, daß er einen ihrer Begleiter getroffen habe und daß man sie am Stein der Feen erwarte, den er gut erkennbar auf die hölzerne Platte des Tisches zeichnete.
Warum waren sie nicht selbst hierher gekommen? Warum hatte der Abbé dem kleinen Taubstummen keinen Brief anvertraut? ... Da sie dem Jungen keine weiteren Auskünfte entlocken konnte, entschloß sie sich, zu dem angegebenen Treffpunkt zu gehen. Es war gut möglich, daß sie aus Vorsicht den abgelegenen Ort gewählt hatten.
Sie machte sich also auf, während des Weges bedauernd, daß sie keine Männerkleidung trug, da ihre Röcke sie beim Marsch durch den Schnee behinderten.
Am Rande der Schlucht der Wölfe angelangt, zögerte sie angesichts der zusammengewehten Schneemengen. Der Umweg über den Kammpfad hätte sie allzu lange aufgehalten. Da Honorine ihr dabei im Wege sein würde, setzte sie das Kind ins Moos unter einen Baum, dessen dichtes Gezweig seine nächste Umgebung ziemlich trocken gehalten hatte, band es mit ihrem Gürtel an den Stamm und ermahnte es, artig zu sein. Der Abbé und Flipot würden bald kommen, um es zu holen. Honorine war daran gewöhnt, auf solche Weise irgendwo zurückgelassen zu werden. Mehr als einmal hatte sie so bei der Nachhut das Ende eines Gefechts oder eines Erkundungsstreifzugs abgewartet.
Angélique hatte bei der Durchquerung der Schlucht zahllose Hindernisse zu überwinden. Mehrmals stürzte sie und versank bis zur Taille im Schnee. Als sie die Höhe der anderen Seite erreicht hatte, glaubte sie zu ihrer Linken menschliche Gestalten sich bewegen zu sehen, und in der Annahme, daß es ihre Begleiter seien, wollte sie sie anrufen. Doch der Ruf erstickte in ihrer Kehle.
Soldaten traten aus dem Wald.
Sie hatten sie nicht entdeckt und folgten der Baumlinie auf der rechten Seite des Tals. Schwarz und mager, mit ihren schimmernden Helmen und Lanzen, die sich gegen den grauen Himmel abzeichneten, hatten sie etwas von der grausamen, heimtük-kischen Art der Wölfe.
Vor Schreck wie gelähmt, wartete Angélique auf ihr Verschwinden, um ihren Weg fortsetzen zu können. Woher kamen diese Soldaten? Was taten sie in dieser entlegenen Gegend des Waldes? Wen suchten sie? ...
Langsamer als zuvor schleppte sie sich in Richtung des Steins der Feen weiter. Die Angst raubte ihr fast den Atem. Am Rande der Lichtung wußte sie, daß sie zu spät gekommen war. Gehängte hingen von den Ästen der Eichen rings um den Stein. Der erste, den sie erkannte, war Flipot ...
Mein armer Flipot! Gestern noch so voll zäher Lebenskraft! Sie hatte ihn nicht vor seinem ihm bestimmten Schicksal bewahren können.
Dann erkannte sie alle, einen nach dem andern: den Abbé de Lesdiguière, Malbrant Schwertstreich, Martin Genêt, den Stallknecht Alain, den Baron du Croissec ... Die Gehängten mit ihren vertrauten Gesichtern bevölkerten die Lichtung mit einer beinah lebendigen Gegenwart, und um ein weniges hätte sie mit ihnen gesprochen: »Da seid ihr endlich . meine Freunde .«
Sie mußte sich an einen Baum lehnen.
»Verflucht seist du, König von Frankreich«, murmelte sie. »Verflucht seist du!«
Wie betäubt blieb sie stehen und vermochte ihren Augen nicht zu trauen. In welchen Hinterhalt waren sie gefallen? Wer hatte sie verraten? Die Soldaten eben? ... Ohne Zweifel waren sie es, die diese grausige Hinrichtung vollzogen hatten.
Die wahnwitzige Hoffnung, daß sie noch nicht tot seien, daß sie wenigstens einen von ihnen wieder ins Leben zurückrufen könnte, ließ sie auf den Stein klettern und versuchen, den Abbé de Lesdiguière von seinem Strang zu lösen. Es gelang ihr, und der Körper glitt weich zu Boden. Trotz der Kälte war er noch nicht erstarrt. Neben ihm kniend, forschte Angélique nach seinem Herzschlag, nach irgendeinem Lebenszeichen. Doch der Tod hatte sein Werk getan. Sie drückte ihn gegen ihr Herz und küßte seine reine Stirn.
»O mein Schutzengel! ... Mein liebes Kind! ... Ihr seid gestorben ... gestorben für mich. Was wird ohne Euch aus mir werden?«
Voller Schmerz betrachtete sie seine starren, schönen Augen, die nichts mehr sahen. Sanft schloß sie seine Lider, schloß sie seinen angeschwollenen Mund ...
Ein ferner, dünner Schrei, der in der frostigen Luft vibrierte, riß sie aus ihrer Versunkenheit. Honorine!
Angélique schüttelte die stumpfe Benommenheit ab, die über sie gekommen war, die vertrauten Toten mit einem letzten Blick umfangend. Sie mußte das Kind retten ...
Honorine saß still unter dem Baum. Sie weinte nicht, aber ihre kleine Nase war rot wie eine Stechpalmenbeere. Sie bewegte ihre Ärmchen in allen Richtungen, um ihre Freude auszudrücken, als sie ihre Mutter bemerkte.
Sie band sie los und nahm sie in ihre Arme. In diesem Augenblick glaubte sie einen Blick auf sich ruhen zu fühlen, wandte sich um und entdeckte auf der anderen Seite der Schlucht der Wölfe einen Soldaten, der sie beobachtete .
Bei der ersten Bewegung Angéliques stieß der Mann einen gutturalen Schrei aus.
Es gelang ihr, die Böschung zu erklettern und sich in die Deckung der Bäume zu flüchten. Sie begann geradeaus zu marschieren, einem Pfad nachdem anderen folgend. Ihr schwerer, durchfeuchteter Rock schlug ihr hindernd um die Beine, doch sie ging schnell, von ihrer Angst vorangetrieben.
Von fern drang dumpfes Hundegebell zu ihr herüber. Hatten sich die Soldaten an ihre Verfolgung gemacht? Mit ihren Hunden? Sie atmete schwer, ihre Arme waren unter dem Gewicht des Kindes fühllos geworden.
Nun war jeder Zweifel ausgeschlossen: sie wurde verfolgt. Das Bellen kam näher, sie unterschied schon die anfeuernden Rufe der Soldaten. Offenbar hielten sie die Hunde noch an ihren Leinen. Der feuchte Schnee bewahrte ihre Spuren. Es nützte ihr nichts, mit der List des von seinen Jägern zum äußersten getriebenen Tieres nach links und rechts Haken zu schlagen; sie würden sie mühelos wiederfinden und sie unerbittlich einkreisen.
Die Dämmerung fiel ein. Der bleierne Himmel schien sich mit der Nacht herabzusenken. Angélique spürte auf ihren Wangen die leise Berührung der ersten Flocken, die um sie herum zu tanzen begannen. Dann fielen sie dichter, und bald schritt sie wie durch gleitende, undurchsichtige Vorhänge, die sie zu ersticken drohten. Aber der Schnee würde wenigstens ihre Spuren verwischen ...
Tatsächlich schienen ihre Verfolger zurückzubleiben. Das Bellen der Hunde war nicht mehr zu hören. Auch sonst kein Laut. Sie bewegte sich in einer Grabesstille, die nur vom dichten, lautlosen Fallen des Schnees erfüllt war. Ihr nasses Gesicht war durch die Kälte wie gelähmt. Oftmals stieß sie hart gegen Baume.
Endlich hielt sie inne. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Der Schnee fiel sanft auf sie herab. Sie war versucht, sich niederzusetzen, wenn auch nur für einen Augenblick, aber dann würde sie nicht wieder aufstehen.
Das Kind rührte sich leicht in ihren Armen.
»Hab keine Angst«, murmelte Angélique, ihre Lippen nur mit Mühe bewegend, »fürchte nichts, ich kenne den Wald, weißt du .«
Von neuem hörte sie das Kläffen der Hunde. Sie gaben nicht auf. Angélique setzte sich in Bewegung. Sie taumelte und hielt sich eben noch aufrecht. Der Boden war ihr unterm Fuß weggeglitten. Sie mußte sich am Rand einer Schlucht oder eines steilen Abhangs befinden. Sie spürte die Leere in einer neuen, von der Enge zwischen den Bäumen gelösten Weite der Nacht.
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