Im März nahm Angélique ihre Ritte durch die Provinz wieder auf. Sie hatte aufgehört, ihr Kind zu nähren, und wollte es im Schloß zurücklassen. Eine der Mägde hatte sich ihm besonders angeschlossen. Der Abbé de Lesdiguière brachte sie jedoch davon ab:

»Verlaß sie nicht, Madame. Fern von Euch wird sie sterben.«

»Ich werde sie später holen, wenn die Ereignisse .«

»Nein«, sagte er, ihr in die Augen sehend, »Ihr werdet sie nie holen.«

»Ist es denn ein Leben für ein so kleines Kind, unaufhörlich über Berg und Tal zu ziehen?«

»Es bekommt ihr, weil Ihr bei ihr seid, ihre Mutter .«

Er selbst wickelte Honorine in eine warme Decke und stieg in den Sattel, sie eifersüchtig an sein Herz drückend.

Es war um diese Zeit, daß Angélique Zweifel zu fühlen begann, wenn sie ihre Tochter betrachtete. Etwas wie Furcht vor einer noch unausgesprochenen Drohung, eine Frage, die Angst vor einem Verdacht, der allmählich zur Gewißheit wurde.

Sie hielten sich in einem gefährdeten Gebiet auf, in das die königlichen Truppen zuweilen Einfalle unternahmen. Um nicht in einen Hinterhalt zu geraten, flüchteten sich Angélique und ihre Begleiter jede Nacht in die Höhlen, die in den Hängen des Tals der Sèvre tausend Schlupfwinkel bildeten. Die Bäuerinnen der benachbarten Weiler pflegten dort zusammenzukommen, um zu spinnen und zu stricken. Sie suchten diese Verstecke wegen der in ihnen herrschenden milden Temperatur auf, die sie der Mühe enthob, Feuer zu entzünden. Nach dem Abendessen begaben sie sich dorthin, den mit Werg und Hanf umwundenen Spinnrocken in der Hand und einen beim Aufbruch noch glühenden Fußwärmer unter dem Arm.

Sie wiesen Angélique die geräumigste der unterirdischen Kammern an, in der die kleine Schar sich zur Ruhe begab, vor der noch kühlen Frische der ersten Frühlingsnächte geschützt.

Eine primitive Funzel, aus dem mit Nußöl durchtränkten Schaft einer Königskerze bestehend, den man auf einem in die Wand der Höhle gerammten Holzarm befestigt hatte, verbreitete sanftes, beruhigendes Licht. Angélique betrachtete das Kind, das auf dem Boden lag und sich kriechend fortzubewegen versuchte. Es war zehn Monate alt und schien durchaus kräftig. War es das rötliche Licht der Funzel, das seinen sprossenden Löckchen einen kupfernen Ton verlieh? . Im Kontrast dazu hatte es schwarze, schmale Augen, die schräg zu den Schläfen hinauf verliefen, wenn es lachte. Sie verschwanden dann fast völlig hinter den Bäckchen, und sein Ausdruck . sein Ausdruck schien Angélique nicht unbekannt, rief ihr eine andere, zur Karikatur verzerrte, abscheuliche Physiognomie ins Gedächtnis.

Sie fuhr so heftig zurück, daß ihr Schädel gegen die Felswand stieß und ein Gefühl der Betäubung zurückblieb.

Montadour! Sein widerliches Vollmondgesicht! ...

Der Schweiß perlte ihr auf den Schläfen.

Es war nicht möglich .

Der Abscheu einer Mutter für ihr Bastardkind ist oft nichts anderes als der Abglanz des Hasses, den sie für den empfindet, der es gezeugt hat. Den Verbrecher mit seinem Namen benennen zu können, schien Angélique schlimmer als das Unbekannte. Colin Paturels Kind hätte sie geliebt. Aber der Gedanke, daß sie, Angélique de Sancé, die Verantwortung für ein menschliches Wesen mit einem Landsknecht der schlimmsten Sorte teilte, schuf ihr den Eindruck eines klebrigen, unerträglichen Ekels, einer Entwürdigung, die das Schicksal über sie verhängte.

Niemals würde sie sich damit abfinden können.

Auf ihren Schrei lief der Abbé de Lesdiguière her-bei.

»Nehmt sie fort«, keuchte Angélique. »Ich will sie nicht mehr sehen. Ich wäre imstande, sie zu töten .«

Um Mitternacht hallte die Höhle noch immer von Honorines Geplärr wider.

Auf ihrem Heulager ausgestreckt, drehte sich Angélique gereizt von einer Seite zur anderen:

»Natürlich, >sie< haben vergessen, ihr das Farnkraut zu geben.«

Honorine konnte nicht einschlafen, ohne ihr Lieblingsspielzeug, eine Farnstaude, in der Hand zu halten, deren zarte Zäckchen sie zu entzücken schienen.

Schließlich hielt es Angélique nicht mehr aus. Sie ging in den Hauptraum hinüber, wo rings um das Feuer der Abbé, der Stallmeister, die Diener und der Baron bereits ihr ganzes Repertoire erschöpft hatten. Mit einem Blick vernichtender Verachtung nahm sie ihr Baby an sich, das alsbald wie durch ein Wunder schwieg, und brachte es in ihre eigene Höhle zurück. Natürlich, die Kleine war durchnäßt, durchfroren, und niemand hatte ihr die Nase geputzt. Angélique versorgte sie mit geübten, energischen Griffen, wik-kelte sie in ihren Wollschal und bettete sie bis über die Ohren ins Heu. Dann ging sie hinaus, um am Waldrand ein Farnkraut zu pflücken, dessen untere Wedel sie abriß. Honorine ergriff es mit gebieterischer Hand und betrachtete entzückt den riesigen, einem prähistorischen Untier ähnelnden Schatten, den die vielfach gezackte Pflanze an die Höhlenwand malte. Besänftigt steckte sie ihren Daumen in den Mund und warf Angélique aus den Winkeln ihrer kleinen, geschlitzten Augen einen Blick höchster Zufriedenheit zu.

»Du, du kennst mich«, schien sie zu sagen. »Bei dir bin ich ruhig .«

»Ja, ich kenne dich«, murmelte Angélique. »Wir können ja nichts dafür . du nicht und ich nicht, nicht wahr?«

Auf einen Ellbogen gestützt, eine Wange in die Hand gelegt, beobachtete sie das Kind mit angespannter Aufmerksamkeit. Die Glückseligkeit, die sein Gesicht ausdrückte, löste die schmerzhafte Klammer um ihr Herz.

Weder Vergangenheit noch Zukunft. Schweigsame Stunden am Herzen der Erde. Und in ihr Bilder mehr als Worte, die gleich sanften, flüchtigen Schatten aufstiegen und sie beruhigten.

». Du bist niemandes Kind ... das kleine Mädchen aus dem Wald ... nur das kleine Mädchen aus dem Wald. Das Haar rot wie Herbstblätter . schwarze Augen wie Maulbeeren ... die Haut weiß und perlmuttschimmernd wie der Sand der Höhlen . du bist die Inkarnation des Waldes ... ein Irrlicht ... ein Kobold, nichts sonst. Du bist niemandes Kind ... Schlafe ... schlaf in Frieden .«

Der Abbé de Lesdiguière trat aus dem Dickicht, die Hände voller Pilze.